Drei Jahre nach dem Brexit legen Umfragen nahe, dass eine steigende Zahl von Briten den EU-Austritt für einen Fehler hält und sich enge Beziehungen zum Kontinent wünscht. Für die beiden größten Parteien, die regierenden Konservativen und die stärkste Oppositionskraft Labour, die schon rund um das EU-Referendum 2016 keine einheitliche Linie in der Brexit-Frage fanden und deren Wählerschaft diesbezüglich ebenfalls uneins war, bleibt das Thema laut Experten risikobehaftet.
Im Fall der Konservativen, die 2019 einen letztlich äußerst erfolgreichen Wahlkampf im Zeichen des Brexit führten und den EU-Austritt nach wie vor als große Chance bewerben, sieht der Politologe Paul Webb die Gefahr, "in einer Art Zangenbewegung gefangen" zu sein. Wenn die Partei bei der für 2024 erwarteten Parlamentswahl versuchen sollte, das Thema erneut in den Vordergrund zu rücken, könnte sie einerseits möglicherweise mit einer Mehrheit von Wählern konfrontiert sein, "die jetzt der Meinung sind, dass der Brexit ein Fehler war und nie passieren hätte sollen, und für den sie in erster Linie die Konservativen verantwortlich machen". Gleichzeitig könnte sie jedoch auch Druck "von einer kleineren Gruppe rechts stehender Wähler" zu spüren bekommen, "die finden, dass der Brexit nicht ordentlich umgesetzt wurde und ein kompletter No-Deal-Brexit oder etwas in der Art hätte sein sollen", so der Experte von der Universität Sussex jüngst im Gespräch mit der APA.
Die EU-Austrittsfrage hat die Regierungspartei in den vergangenen Jahren merklich geprägt und verändert. Der Brexit habe die Konservativen so stark gespalten, "dass Personen, die ihn nicht akzeptieren wollten, entweder aus freien Stücken die Partei verließen oder Nominierungen oder Sitze verloren, und das schloss auch ziemlich viele talentierte Leute ein", sagt Webb. "Das Hauptkriterium zur Auswahl von Kabinettsmitgliedern seit 2016 scheint ihre Haltung zum Brexit gewesen zu sein."
Oft scheine die nationalistische Rechte in der Konservativen Partei die Dynamik bestimmt zu haben. "Ob sie tatsächlich eine Mehrheit in der Partei ausmacht, ob auf parlamentarischer oder außerparlamentarischer Ebene, bin ich mir nicht so sicher, aber sie hatte definitiv eine Art Vetorecht, und konservative Parteichefs ab Theresa May scheinen sich vor ihr gefürchtet zu haben, wenn man das so ausdrücken will." Das dürfte nach Einschätzung Webbs wohl auch heute noch der Fall sein.
Sollten die beiden großen Parteien ein klares Konzept für die künftigen Beziehungen Londons zur EU haben, so äußerten sie sich "im Moment wohl bewusst nur vage dazu, weil sie keinen Streit darüber anfangen wollen", meint der Politik-Professor. Die Konservativen steckten gewissermaßen in ihrer aktuellen Position fest, und die "sehr, sehr vorsichtige Herangehensweise" von Labour unter ihrem Vorsitzenden Keir Starmer sei verständlich, auch wenn die Partei damit "ein gewisses Maß an Frustration bei jenen hervorruft, die mit dem Brexit nicht glücklich sind, und die meisten Labour-Unterstützer sind keine Brexiteers".
Starmer habe jedoch offensichtlich Sorge, beschuldigt zu werden, "die ganze Debatte neu zu eröffnen und die Unterstützung der sogenannten Red-Wall-Wahlkreise zu verlieren, die pro-Labour waren, aber hauptsächlich wegen des Brexit zu den Konservativen gewechselt sind", so Webb. "Vom Standpunkt der Labour Party aus ist strategisch das Beste, was sie tun können, das Thema Brexit zumindest für den Augenblick zurückzustellen und den Fokus auf den Streiks und dem Schlamassel, in dem sich die Wirtschaft befindet, zu lassen und zu sagen, dass die Konservativen seit zwölf Jahren an der Macht sind, es also an ihnen liegt. Nichts zu tun, was ein Thema auf die Agenda bringt, das auch für die Opposition schwierig sein könnte."
Ähnlich bewertet das Roger Mortimore, Professor für öffentliche Meinung und politische Analyse am Londoner King's College. Aus Labour-Sicht sei die Brexit-Thematik noch immer eine, die sie bei einer Wahl ziemlich sicher Stimmen kosten würde, "und sie haben so viele andere Themen, die ihnen Stimmen bringen und die viel sicherer sind", argumentiert er gegenüber der APA. Auch er verweist auf den Erfolg der Konservativen 2019 in nordenglischen Wahlkreisen, die jahrzehntelang als Labour-Hochburgen gegolten hatten. "Labour muss diese Wähler unbedingt zurückgewinnen, und wenn sie nicht über den Brexit reden, können sie sie zurückgewinnen."
Momentan sei der Brexit im Wesentlichen ohnehin ein "totes Thema": "Wir werden in absehbarer Zeit nicht wieder in die Europäische Union zurückkehren - keine der beiden Parteien, die eine Regierung bilden könnten, unterstützt das." Das könnte sich aber natürlich ändern. "Blicken wir 20 Jahre in die Zukunft, und es könnte wieder eine plausible Möglichkeit sein, um Wiedereintritt anzusuchen. Aber das wird absolut nicht in den nächsten zehn Jahren passieren", sagt Mortimore.
Auch Webb hält eine erneute EU-Mitgliedschaft seines Landes in absehbarer Zeit für nicht realistisch - und das nicht nur wegen der Haltung auf britischer Seite. "Wenn das je passiert, dann ist das mindestens ein Jahrzehnt entfernt, und wenn es je wieder zu einer britischen Mitgliedschaft kommt, dann zu anderen Konditionen als denjenigen, die wir zuvor hatten, und ich würde davon ausgehen, dass das schlechtere Konditionen sind." (apa)