Mit dem größten Streik seit einem Jahrzehnt hat der Arbeitskampf in Großbritannien seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Schätzungen zufolge legten am Mittwoch eine halbe Million Beschäftigte in mehreren Branchen die Arbeit nieder. Sie demonstrierten vor allem für deutlich stärkere Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen - aber auch für das Streikrecht an sich.
Dabei streikten am Mittwoch Lehrer und Lokführer, Hochschuldozenten und Regierungsmitarbeiter, Busfahrer und Sicherheitskräfte gleichzeitig. Längst ist in der britischen Öffentlichkeit von einem "Winter des Unmuts" die Rede.
Die Unzufriedenheit ist in allen Branchen enorm. Für die kommenden Tage sind weitere Ausstände angekündigt. "Diese Probleme werden nicht auf magische Weise verschwinden", sagte der Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds TUC, Paul Nowak.
Die Streikenden eint die Forderung nach einer inflationsgerechten Anhebung ihrer Löhne. Um gut zehn Prozent sind die Verbraucherpreise zuletzt gestiegen, doch das Lohnangebot der Regierung liegt deutlich darunter.
Lehrerinnen und Lehrer etwa sollen fünf Prozent mehr erhalten. Viel zu wenig, schimpfte die zuständige Gewerkschaft NEU. Seit 2010 sei der Reallohn um 23 Prozent gesunken, viele Lehrkräfte würden wegen schlechter Bezahlung aus dem Job ausscheiden. "Die Regierung hat unser Bildungssystem heruntergewirtschaftet, unsere Schulen unterfinanziert und die Menschen, die dort arbeiten, unterbezahlt", sagte NEU-Co-Chef Kevin Courtney. Schätzungsweise 120.000 Lehrerinnen und Lehrer legten nun in England und Wales für einen Tag die Arbeit nieder. Etwa 23.000 Schulen blieben geschlossen.
Doch die Regierung lehnt bei den Lehrern wie auch in anderen Branchen Nachverhandlungen ab. Der konservative Premier Rishi Sunak warnte wiederholt, eine inflationsgerechte Anhebung würde den "Teufelskreis" immer weiter steigender Verbraucherpreise nur antreiben.
Den Unmut treibt auch ein umstrittenes Regierungsvorhaben an. Sunak und Wirtschaftsminister Grant Shapps wollen per Gesetz das Streikrecht einschränken. Für Polizisten, Feuerwehrleute, Gesundheits- oder Bahnpersonal sollen strikte Beschränkungen gelten. Sunak argumentiert, damit solle die Grundversorgung gewährleistet werden. "Die Menschen können nicht frei wählen, wann sie einen Rettungswagen oder die Feuerwehr benötigen", sagte Shapps. Sein Entwurf biete eine faire Balance zwischen Streikrecht und den Nöten der Bevölkerung. Am Montag hatte das von den Tories dominierte Unterhaus das Gesetz in dritter Lesung angenommen. Doch im Oberhaus wird Widerstand erwartet.
Gewerkschaften und Opposition kritisieren die Pläne scharf. Das Vorhaben sei "undemokratisch, nicht durchführbar und mit ziemlicher Sicherheit illegal", so TUC-Generalsekretär Nowak. Streikende Arbeitnehmer müssten fürchten, ihre Jobs zu verlieren. Labour-Vize Angela Rayner nennt das Gesetz den "Feuert-die-Pflegekräfte-Entwurf" - und trifft damit den Nerv vieler. In Umfragen unterstützt nämlich eine Mehrheit die Streikenden.
Alte Taktik der Schuldzuweisung zieht nicht
Konnten die Konservativen in der Vergangenheit wiederholt die Labour Party, die eng mit den Gewerkschaften verwoben ist, für Streikfolgen verantwortlich machen, zieht dieser Ansatz nach Einschätzung von Beobachtern nicht mehr. Zu viele Menschen sind selbst von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen betroffen. "Wegen der Lebenskostenkrise kann man diese Streiks nicht mehr als ideologiegetrieben darstellen", sagte James Frayne vom Beratungsunternehmen Public First dem Online-Portal "Politico". Vielmehr drückt die empfundene Sturheit der Regierung auf ihre Umfragewerte. Seit Monaten liegt Labour klar in Führung.
Dennoch: Nachgeben werde Sunak nicht, meinen Parteikollegen. Von ihnen bekommt der Premierminister vielmehr Rückendeckung. Die Inflation werde bald weiter sinken, damit würden Verbraucher entlastet, zitierte "Politico" einen Tory-Abgeordneten. "Deshalb müssen wir so hart wie möglich bleiben."