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Festhalten am gescheiterten System

Von Vilja Schiretz

Politik

Die Dublin-Verordnung zur Verteilung von Flüchtlingen versagt bei hohen Antragszahlen wie im vergangenen Jahr.


Wenn die EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag zu einem Gipfeltreffen zusammenkommen, wird es wieder einmal um Migration gehen. Österreich pocht etwa auf einen stärkeren Schutz der EU-Außengrenzen, auch Möglichkeiten zu schnelleren Außerlandesbringungen sollen thematisiert werden.

Nicht gerüttelt werden dürfte dagegen an den Mechanismen zur Verteilung von Geflüchteten, wenn sie erst einmal in der EU angekommen sind. Seit 1. Jänner 2014 gilt dazu die Dublin-III-Verordnung, die dritte Version des seit 1990 bestehenden Regelwerks, das eigentlich für mehr Klarheit im europäischen Asylwesen sorgen sollte. Die in der Verordnung aufgelisteten Kriterien, welche Staaten welche Asylanträge übernehmen müssen, sollten eine rasche Klärung der Zuständigkeit gewährleisten und zugleich verhindern, dass Personen in mehreren EU-Staaten gleichzeitig um Asyl ansuchen. Sekundärmigration zwischen den einzelnen EU-Staaten sollte somit vermieden werden.

2015 geriet Dublin an seine Grenzen

Doch spätestens seit der massiven Flüchtlingsbewegung in den Jahren 2015 und 2016 ist klar, dass das System derart hohen Antragszahlen nicht standhalten kann. Wie die EU-Kommission in einem Bericht aus dem Jahr 2015 festhält, war Dublin nie geschaffen worden, um bei einem massenhaften Zustrom von Asylsuchenden für eine gleichmäßige Verteilung zu sorgen. So werden etwa die tatsächlichen Möglichkeiten der einzelnen Staaten, Asylanträge zu bearbeiten, in den Verteilungskriterien nicht berücksichtigt, Staaten an der EU-Außengrenze übermäßig belastet. Trotzdem scheint eine Reform des Systems mangels Einigkeit der Mitgliedstaaten außer Reichweite.

So kommt es, dass auch 2022, als EU-weit wieder deutlich öfter um Asyl angesucht wurde als in den Jahren davor, das alte System Bestand hatte. Wie aus dem Asylbericht des Innenministeriums hervorgeht, wurden im vergangenen Jahr 1.337 "Dublin-Überstellungen" aus einem anderen Land nach Österreich und 1.085 "Dublin-Überstellungen" aus Österreich in einen anderen Mitgliedstaat durchgeführt. Das sind mehr als im Jahr 2021, als 690 Personen nach Österreich und 828 von Österreich überstellt wurden. Allerdings wurden 2022 in Österreich rund 108.000 Asylanträge gestellt - und damit fast dreimal so viele wie die knapp 40.000 im Jahr davor. Auch führte nur ein Bruchteil der eingeleiteten Dublin-Konsultationen tatsächlich zu einer Überstellung: Insgesamt gab es gut 24.000 Prüfungen zur Übernahme eines Asylwerbers durch Österreich und knapp 15.000 Prüfungen zu einer Überstellung in ein anderes Land.

Das Plus bei den Überstellungen sieht man im Innenministerium grundsätzlich positiv, man werde aber weiterhin "hart daran arbeiten", mehr Transfers umsetzen zu können. Allerdings würden die Zahlen auch zeigen, "dass das Dublin-System nicht ordentlich funktioniert". Nach Ungarn und Griechenland können etwa keine Menschen zurückgebracht werden, da es dort Bedenken in Bezug auf die Behandlung von Asylsuchenden gibt. Andere Staaten würden den Prozess wiederum "bürokratisch verschleppen, bis es nicht mehr deren Problem ist", heißt es aus dem Innenministerium. Denn wenn eine Überstellung nicht binnen einer Frist von sechs Monaten umgesetzt wird, bleibt die Zuständigkeit bei dem Land, das den Antrag gestellt hat. Taucht der betroffene Asylwerber unter, wird die Frist auf eineinhalb Jahre verlängert.

Woran Dublin-Überstellungen in Jahren mit hohen Flüchtlingszahlen scheitern, legt die EU-Kommission bereits in dem acht Jahre alten Bericht dar. Der administrative Aufwand, jeden einzelnen Fall zu überprüfen, übersteige oft die Möglichkeiten, Länder würden daher von Konsultationen absehen und Anträge ohne weitere Prüfung übernehmen.

Mehrere Kriterien müssen geprüft werden

Und selbst wenn Anträge auf Übernahmen gestellt werden, nehme deren Qualität bei großen Antragszahlen ab, teils würden relevante Informationen fehlen. Das führe zu einer höhren Ablehnungsquote und dazu, dass die Zahl an tatsächlich durchgeführten Überstellungen gering bleibe, heißt es in dem Bericht.

Denn bei der Prüfung der Zuständigkeit sind mehrere Kriterien zu berücksichtigen. Am bekanntesten ist wohl das Prinzip, wonach jenes Land für den Asylantrag zuständig ist, in dem der Asylsuchende erstmals EU-Boden betreten hat. Doch laut der Verordnung sind andere Kriterien diesem Prinzip übergeordnet: Gibt es bereits Familienangehörige, die in einem Mitgliedstaat Asyl erhalten oder darum angesucht haben, fällt die Zuständigkeit an dieses Land. Ganz besonders bei unbegleiteten Minderjährigen sollen Zusammenführungen mit Familienmitgliedern forciert werden. Auch muss geprüft werden, ob der Antragsteller bereits ein gültiges Visum für einen Mitgliedstaat besitzt, auch dann muss dieses Land den Antrag bearbeiten.

40.000 Asylverfahren eingestellt

In der Praxis sei laut dem Bericht das Vorhandensein von Familienverbindungen oft schwieriger festzustellen als das Land, über welches die Einreise erfolgte. Nicht immer werden die Kriterien deshalb in der vorgesehenen Reihenfolge bewertet.

Keine Berücksichtigung in den Dublin-Kriterien finden freilich persönliche Wünsche der Antragsteller. Für diese kann etwa eine bestehende Community von Landsleuten, bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder vorhandene Sprachkenntnisse ein EU-Land attraktiver machen als ein anderes. Einen weiteren "großen Mangel im System" nennt ein Bericht des EU-Parlaments aus dem Jahr 2020 die teils extrem unterschiedlichen Anerkennungsraten von Asylanträgen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Kombiniert führt das dazu, dass sich nicht wenige Asylsuchende auf eigene Faust auf den Weg in andere EU-Staaten machen - jene Sekundärmigration also, die die Dublin Verordnung eigentlich verhindern sollte.

Besonders deutlich wird das bei einem Blick auf die österreichische Asylstatistik: Mehr als 40.000 Asylverfahren wurden 2022 eingestellt, deutlich mehr als in jedem anderen EU-Land. Viele Menschen dürften in ihre Heimat zurückgekehrt sein, im Wissen, dass ihr Antrag aussichtslos ist, betont das Innenministerium. Viele andere dürften aber auch innerhalb der EU weitergereist sein.