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Verblasst der Separatisten-Traum?

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Der Rücktritt Nicola Sturgeons hat Folgen für die schottische Unabhängigkeitsbewegung.


Zwischen Verwunderung und Hoffnung - in diesem Spektrum bewegten sich britische Kommentatoren nach dem Rückzug der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon. Eine Zeitung sah schon "den Unabhängigkeitstraum verblassen". Eine andere fragte: "Ist die Zukunft unserer Union jetzt endlich sicherer?"

Tatsächlich hat die überraschende Rücktrittserklärung der Vorsitzenden der Schottischen Nationalpartei (SNP) in kurzer Zeit weite Kreise gezogen, Kreise weit über Schottland und sogar über das Vereinigte Königreich hinaus. Kein Wunder: Lange schon sind Schottlands separatistische Bestrebungen vom In- wie Ausland aufmerksam und von britischen Unionisten mit wachsender Nervosität verfolgt worden. Da es auch in Nordirland hörbar rumort und sich sogar im kleinen Wales neuerdings manchmal Widerstand gegen London bemerkbar macht, ist immer wieder die Frage laut geworden, ob denn England irgendwann gar allein dastehen könnte - ob das große Britannien am Ende noch auseinanderfällt.

Eine besondere Rolle in diesem Prozess spielte die letzten acht Jahre Nicola Sturgeon, die auf dem Posten der schottischen Regierungschefin die dortige Unabhängigkeitsbewegung anführte. So beliebt war sie persönlich, so populär ihre Politik des sozialen Ausgleichs und der nationalen Selbstbestimmung, dass ihre Gegner stets fürchteten, sie werde eine Mehrheit der schottischen Wähler eines Tages noch mit sich in die Unabhängigkeit ziehen, bei einer neuen, einer entscheidenden Volksabstimmung.

Klagen über Abgang

Jetzt, da sie sich stattdessen aus dem Rampenlicht zurückzieht, herrscht allgemeine Erleichterung im unionistischen Lager. Ohne Sturgeon, kalkulieren Konservative, Labour-Vertreter und Liberaldemokraten, werde es der SNP an Überzeugungskraft fehlen, am nötigen Schwung für ihre Kampagne zum Austritt aus der Union. Auch in der SNP gibt es Sorgen, dass die Partei nun womöglich in Fraktionen zerfallen und sich hoffnungslos über eine neue Führung und den weiteren Kurs streiten könnte, wenn sie nicht schnell ihre Lage konsolidiert.

Um mindestens fünf und vielleicht um noch mehr Jahre habe Sturgeons Abgang die Bewegung zurückgeworfen, ist die Klage, die nun in Edinburgh, Glasgow oder Aberdeen unter SNP-Anhängern zu hören ist. In die vormalige Bewunderung für Sturgeon mischen sich Ungläubigkeit und manchmal Verdruss.

Dabei war es Nicola Sturgeon gewesen, die nach dem verlorenen Unabhängigkeitsreferendum von 2014 die geschlagene Seite neu aufgebaut und motiviert, das Verlangen nach einem neuen Wahlgang damals wieder aufs Tapet gebracht hat. Und die zugleich Millionen Wähler von sich einnahm, das Tagesgeschäft erfolgreich versah, die Kampagne für Unabhängigkeit am Laufen hielt und immer neu inspirierte sowie Fundamentalisten und Realisten in ihrer Partei gleichermaßen zufriedenzustellen verstand.

Zu Hilfe kam ihr freilich der Brexit, gegen den beim Austrittsreferendum von 2016 schon 62 Prozent der Schotten gestimmt hatten. Und die generelle Geringschätzung für Schottland, mit der die "englischen Tories" ihren harten Brexit und alle möglichen anderen Maßnahmen durchzwangen, ohne schottische Wünsche zu berücksichtigen. In den Brexit-Tumulten und dann wieder in der Covid-Pandemie, als Sturgeon ihre eigene Gesundheitspolitik gestaltete, strebten die Umfragewerte für schottische Unabhängigkeit der 50-Prozent-Marke zu.

Sehr viel höher hinaus kamen sie freilich nicht. Die deutliche Mehrheit, die Sturgeon ihrerseits einmal zur Voraussetzung für ein zweites Referendum gemacht hatte, stellte sich nicht ein.

Ringen um Referendum

In London weigerte sich zudem ein Premierminister nach dem anderen, Sturgeons Verlangen nach Ausschreibung eines neuen Referendums stattzugeben - selbst als sie, zusammen mit den schottischen Grünen, ein klares Wählermandat für eine solche Abstimmung nachweisen konnte. Am Ende sah sie keine andere Lösung, als das Oberste Gericht in London gegen die Londoner Exekutive anzurufen. Aber die Rechnung ging nicht auf. Ende des Vorjahres entschied das Gericht, dass ohne Genehmigung der britischen Regierung kein Referendum dieser Art ausgerichtet werden könne. Eine illegale Abstimmung nach katalonischem Vorbild wiederum wollte Sturgeon nicht organisieren.

Zuletzt verfiel Sturgeon auf die Idee, die nächsten britischen Wahlen zum "De-facto-Referendum" für Schottlands Unabhängigkeit zu erklären. Das erwies sich freilich als unpopulär und stieß sogar in der SNP auf Kritik.

Sturgeon, monierten ihre Kritiker, habe die SNP in Sachen Unabhängigkeit in eine politische Sackgasse gesteuert. Mit einem Mal schien sie ihre gewohnte Selbstsicherheit zu verlieren, begann sie Fehler zu machen. Mehrfach kreidete man ihr in den letzten Wochen Unzulänglichkeiten, uneingelöste Versprechen und Fehlentscheidungen an. Seit dem für sie verhängnisvollen Londoner Gerichtsurteil begann auch die Sympathie für sie wie für die schottische Selbstbestimmung den Umfragen zufolge zu sinken.

Diese Woche gab sie, unter dem unerträglich gewordenen Druck der Herausforderungen ihres Amtes, schließlich auf. Ob ihre Partei die Kampagne ohne sie frisch beleben kann, wird sich erst zeigen müssen.

Beobachter auf den Britischen Inseln, die mit der schottischen Politik vertraut sind, warnen freilich allzu siegesgewisse Anhänger der Union vor voreiligen Schlüssen. Im Augenblick, meinen sie, habe die nationalistische Springflut offensichtlich "ihren Höchststand überschritten", ziehe sich das Wasser ein Stück weit zurück.

Ziel in die Ferne gerückt

Langfristig aber, meint der Schottland-Kenner Martin Kettle, sei es noch immer "eher wahrscheinlich", dass sich Schottland irgendwann von England lösen werde. Geradezu beharrlich habe sich ja die separatistische Bewegung über Jahre gehalten. Tatsächlich würde, wie Umfragen zeigen, eine Mehrheit jüngerer Schotten schon heute lieber selbstbestimmt in die Zukunft ziehen.

Solange die britische Regierung nicht demonstrieren könne, dass sie zum Wohle des ganzen Landes regiere und nicht nur im Interesse Englands, werde "langfristig weiter ein Fragezeichen über der Zukunft des Vereinigten Königreichs hängen", warnte diese Woche die Londoner "Financial Times". Dass der Traum der schottischen Separatisten so einfach verblasst, glaubt in Schottland jedenfalls niemand. Auch wenn das Ziel etwas ferner gerückt ist.