Kaum wo in der Ukraine wird derzeit so heftig gekämpft wie in Bachmut. In der Stadt tobt ein Stellungskrieg mit zahlreichen Todesopfern, Zivilisten befinden sich in ständiger Lebensgefahr. Die "Wiener Zeitung" war an der Front und sprach dort mit Serhij Osatschuk, einem Politiker, der nun wieder beim Militär ist, ob die Verteidigung der ostukrainischen Stadt diesen hohen Preis wert ist und welche Unterstützung er sich vom Ausland erwartet.
"Wiener Zeitung". Wie schätzen Sie die derzeitige Lage in Bachmut ein?
Serhij Osatschuk: Es ist allgemein bekannt, dass die Verluste der russischen Truppen um 50 bis 70 Prozent höher sind als auf unserer Seite. Die russischen Verbände wollen Bachmut seit Wochen und Monaten einnehmen - aber sie haben es nicht geschafft.
In Bachmut leben immer noch Menschen. Warum sind sie noch hier und nicht in Sicherheit?
Einerseits: Das sind tapfere Menschen, die ihre Heimatstadt über alles lieben. Andererseits: Wie leichtsinnig kann man sein, in der heutigen Situation - in der die Stadt ständig von russischen Einheiten beschossen wird - weiter durch die Straßen zu gehen und zu versuchen, in Bachmut weiterzuleben? Die ukrainischen Behörden unternehmen alles, damit diese Menschen in Sicherheit gebracht werden können. Doch es ist die freie Entscheidung freier Menschen in einem freien Land. Aber: Die Leute sollten sofort Bachmut verlassen, sich durch Evakuierung schützen und ihr Leben retten. Sie sollten erst dann wieder in die Stadt zurückkehren, wenn wir die russischen Truppen so weit zurückgedrängt haben, dass keine Gefahr mehr droht.

Die ukrainische Armee verliert hier jeden Tag Soldaten. Ist Bachmut diesen Preis wert?
Wir wissen ganz genau, was wir hier tun: Wir verteidigen ukrainisches Land und ukrainische Menschen. Überall, wo die Russen einmarschieren, bringen sie Vergewaltigung, Folter und Vertreibung - das gilt es zu verhindern. Darum bitte ich Menschen, diesen Krieg nicht als Computerspiel anzusehen, sich nicht als Hobby-Militärstratege die Abendnachrichten anzusehen, sondern sich bewusst zu machen, dass es hier um Menschenleben geht, und die müssen wir schützen. Wenn wir das nicht tun, dann werden Frauen vergewaltigt, Kinder nach Russland entführt und ukrainische Ortschaften gehen zugrunde. Das ist unser Land, unser Leben, unsere Freiheit und unsere Würde, um die wir kämpfen. Im ersten Kriegsjahr haben wir alle gesehen, wie geschlossen der Westen - auch Deutschland, wenn auch mit etwas Verspätung - der Ukraine mit Waffen, humanitären Lieferungen und finanzieller Unterstützung sehr geholfen hat. Wir haben gezeigt, dass Russland die Ukraine nicht brechen kann, wir haben gezeigt, dass wir kämpfen können. Und wir kämpfen weiter gegen den Aggressor.
Welche internationale Hilfe erwarten Sie nun?
Jetzt muss auf Russland politischer Druck ausgeübt werden, die Sanktionen gegen Russland müssen verstärkt und die Hilfe für die Ukraine muss weiter intensiviert werden. Vergessen Sie nicht: Hinter diesem Krieg steht nicht Wladimir Putin allein, sondern eine ganze Gruppe im Kreml und das russische Volk. Wenn ich mitbekomme, dass russische Staatsbürger in Wien, in Berlin oder in Zürich einkaufen gehen, durch die Stadt flanieren und Torten verspeisen, dann fühle ich mich unwohl. Man darf das Geld von diesen Leuten nicht nehmen, denn auf den Banknoten, die die Russen in aller Welt ausgeben, klebt ukrainisches Blut.
Welche Unterstützung kann ein neutrales Land wie Österreich der Ukraine leisten?
Man kann bei diesem Konflikt nicht neutral bleiben. Besonders bei derartigen Herausforderungen für die friedliche Koexistenz der Nationen muss nicht nur jedes Land, jede Nation, sondern auch jeder Bürger, jede Bürgerin Flagge zeigen. Wir Ukrainer wollten nie Krieg in Europa. Wir dachten lange, Putins Aggressionen gegen die Ukraine seien nur ein Spiel. Doch dann wurde es ernst: im Jahr 2014 mit dem Angriff auf die Krim und den Donbass. Jetzt muss Europa geschlossen gegen Putin vorgehen, den Aggressor zurückschlagen. Ich lehne es jedenfalls entschieden ab, mit diesem Terroristen, der im Blutrausch ist, zu verhandeln. Und es darf ihm und seiner Clique nicht erlaubt werden, ein Leben in Österreich oder in der EU zu genießen oder Geld in der EU oder der Schweiz zu parken.
Ich bin höchst zufrieden mit der Unterstützung der Bürgergesellschaft, die seit dem ersten Tag engagierte Hilfe für die Ukrainerinnen und Ukrainer leistet. Ich bin höchst zufrieden über die Statements des Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen und von Bundeskanzler Karl Nehammer, die den Krieg sofort mit scharfen Worten verurteilt und der Ukraine ihre Unterstützung versichert haben. Womit ich nicht zufrieden bin, das sind die provokativen Aussagen von Außenminister Alexander Schallenberg, der versucht, weiterhin mit Russland eine Brücke offen zu halten. Ich sage: Vermitteln, verhandeln - ja! Aber nicht mit diesem Kriegsverbrecher und seiner Clique im Kreml. Jetzt ist das Stoppen dieses Mordens angesagt.
Wenn es nach Ihnen ginge: Wie könnte es zu einem Waffenstillstand und zu einem Frieden in der Ukraine kommen?
Zuerst müssen wir eine Situation herbeiführen, in der die Russen die Ukrainer um Verzeihung für diesen Angriffskrieg bitten und sich von unserem Territorium zurückziehen. Und sie werden Reparationszahlungen leisten müssen. In Russland muss die Einsicht einkehren, dass Putin ein Terrorist ist und sich Russland durch diesen Krieg beschämt hat. Genauso, wie Deutschland sich nach dem Zweiten Weltkrieg seiner Schuld gestellt hat, wird dieser Moment auch auf Russland zukommen. Im 21. Jahrhundert Menschen eines anderen Landes zu töten und einen imperialistischen Traum wieder aufleben zu lassen, das ist nichts anderes als ein Verbrechen. Der Internationale Strafgerichtshof wird sich dessen eines Tages annehmen müssen, ein weiteres Nürnberger Tribunal wird kommen.