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Politik als "Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln"

Von Stefan Schocher

Politik

Der internationale Bosnien-Beauftragte Christian Schmidt über die Gründe, warum dieser Staat nicht zusammenwächst.


Christian Schmidt ist seit 2021 der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, einem Land, in dem drei Ethnien - Bosniaken, Kroaten und Serben - völlig getrennt voneinander nebeneinander leben. Das zieht sich bis ins Schulsystem. In dieser Funktion ist Schmidt gewissermaßen Präsident und Höchstrichter in Personalunion. Sein Mandat ist ein politisches Minenfeld. Russland hat seiner Bestellung als einziger von 54 Staaten nicht zugestimmt. Im Amt ist er dennoch.

Der Präsident der Serbischen Republik Srpska trifft ihn demnach auch nicht und spricht nur von "dem Deutschen", der hier sei - auch, weil Schmidt ein Gesetz unterstützt hat, das die Verehrung von Kriegsverbrechern verbietet. Kritik kommt nach seiner Entscheidung am Wahlabend des Urnengangs von 2022 auch von der bosniakischen sowie der kroatischen Seite. Manche in Bosnien aber sagen: Wenn einer von allen Seiten kritisiert werde, mache er eventuell genau das Richtige.

"Wiener Zeitung":Es gab einiges an Kritik an Ihnen in jüngster Zeit. Wie gehen Sie damit um?

Christian Schmidt: Wenn Kritik und Bemerkungen substanziell sind, muss man sie bewerten; wenn sie eher mit Intentionen verknüpft sind, muss man das anders sehen. Und ich habe bei den aktuellen Vorwürfen nichts gefunden, das inhaltlich echten Anlass zum Nachdenken gibt. Außer, dass ich mich dazu entschlossen habe, den einen oder anderen mit den wesentlichen Texten zu Bosnien-Herzegowina vom Dayton-Vertrag bis hin zur Verfassung dieses Staates zu versorgen - wenn einer noch nicht verstanden hat, dass das hier nicht so ganz einfach ist, wie man sich das in irgendwelchen Salons vorstellt.

Sie sagen ja selber, dass das hier nicht so einfach ist. Die Verfassung, Dayton, die Realität sind ja alle voller Fallstricke. Wie kann es sein, dass es nach fast 30 Jahren immer noch so schwierig ist?

Mir hat ein hiesiger Politiker einmal gesagt: Hier gilt Clausewitz verkehrt. Also Clausewitz, der mit seinem Satz, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, zitiert wird. Der hiesige Politiker sagte: Hier kann man manchmal den Eindruck gewinnen, die Politik sei Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Versöhnung und Neubeginn sind in den letzten 27 Jahren nicht durchgängig gewesen. Deshalb gibt es auf die Dayton-Frage zwei Antworten: Die eine ist eine komplexe juristische, in der man sich verlieren kann, weil sie äußerst kompliziert ist. Da sind so unterschiedliche Ebenen verknüpft worden, dass es wirklich hoher Staatskunst bedarf, das ins Reine zu bringen. Was meine ich damit: Sie haben zweieinhalb Entitäten, die in sich wieder multiethnisch sind, und darüber hinaus ein kompliziertes System der ethnischen Differenzierung von drei Gleichberechtigten. Und all das in einem begrenzt demokratischen System der Interessen-Kontrolle der einzelnen Ethnien. Das erfordert Habilitation im Verfassungsrecht, um das zu durchdringen. Der gute Gedanke der Checks and Balances hat sich verdreht in einen Gedanken der Nutzung der Checks and Balances als Blockadeinstrument zur Durchsetzung eigener Interessen. Das ist die komplizierte Erklärung.

Und wie lautet die andere einfache Antwort?

Man kann solche Dinge ganz einfach überwinden, wenn man den gemeinsamen Willen dazu hat.

Aber der ist nicht da?

Ich sehe ihn derzeit nicht.

Würden Sie denn sagen, dass diese Struktur - Dayton, die Verfassung - dysfunktional ist?

Das würde ich so nicht sagen. Der deutsche Verfassungsrechtler Birkenförde hat einmal den Satz gesagt: Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Das ist hier der Fall. Der Staat Bosnien-Herzegowina lebt von Voraussetzungen, die die Staatsorganisation nicht schaffen kann. Sie kann eigentlich nur das zivile Engagement bringen. Das ist im Kern hier nach diesem katastrophalen Krieg der Versuch des aufeinander Zugehens im Praktischen. Das sehe ich bei den Bürgerinnen und Bürgern, das sehe ich aber nicht in der Politik. Es ist zwar ungerecht, das zu pauschalisieren. Aber viele haben schnell erkannt, dass mit dem nationalistischen Narrativ sehr viel leichter Stimmen zu holen sind als mit einem differenzieren, integrativen Narrativ. Und das fehlt. Das fehlt auch, weil das Bildungssystem immer noch nicht vereint ist und keine gemeinsame Grundlage hat. Das halte ich für eines der zentralen Defizite. Das kann aber nicht Dayton bieten, das bedarf eines gemeinsamen Interesses. Das muss von den hier Verantwortlichen, den Gewählten gemacht werden.

Man hat aber das Gefühl, da ist schon in der Struktur des Staates an sich - das mag an Dayton liegen, an der Verfassung, an der Praxis - sehr wenig Raum für Aussöhnung. Und das bietet wiederum sehr viel Platz für Agitation von Außen.

Das zeigt die Widersprüchlichkeit. Was die internationale Gemeinschaft hier angeht, ist das Engagement da. Es hat aber auch ein Stück dazu geführt, dass sich eine Erwartungshaltung des Auftischens gebildet hat. Die internationale Gemeinschaft, das sind die Kellner, die bitte das Menü bringen. So muss man sich selbst keine Gedanken machen, wie man es selbst zubereitet. Das ist kontraproduktiv. Andererseits haben die Versuche, die ausländischen Kellner abzuschaffen, zu einer ganz schlechten Verköstigung geführt. Die Konfliktlinien sind nie aufgearbeitet worden. Zu Versöhnung kann man nur über die Wahrheit kommen. Diese Wahrheitsfindung ist aber außerordentlich komplex und schwierig.

Die Internationale Gemeinschaft ist ja nicht eine Person, auch wenn Sie sie als Person repräsentieren. Sondern in ihr gibt es ja auch Konflikte und die ziehen sich bis hier. Wie gefährlich ist das vor allem jetzt gerade?

Die jetzige aggressive Politik Russlands gegen Nachbarn, der Krieg gegen die Ukraine machen hier große Sorgen. Er macht eigentlich die Knie schlottern. Weil man nicht weiß, ob wieder Krieg kommt. Das ist eine große Unsicherheit.

Halten Sie das für eine reale Gefahr?

Ich sehe ein Risiko, ich sehe aber keine aktuelle Gefahr.

Das ist ja ein Zustand, der mittlerweile seit fast 30 Jahren anhält. Das sind 30 Jahre De-facto-Protektorat. Ist das eine Gemengelage, die dazu geeignet ist, einen Schritt nach vorne zu tätigen?

Das macht es schwieriger. Weil das Schutzbedürfnis wächst. Weil sich die Menschen auf Protektion verlassen können, was die äußere Sicherheit belangt. Es ist die Erwartung vorhanden, dass man geschützt wird. Da muss mehr auf die örtlichen, lokalen Kräfte übergehen. Aber wenn wir jetzt die internationale Protektion reduzieren würden, würde das wohl von vielen missinterpretiert. Genauso wie den Menschen hier der Krieg in den Knochen steckt, steckt ihnen auch das Versagen der internationalen Gemeinschaft von 1992 in den Knochen.

Also auch das Hinhalten der EU.

Ja. Die EU spürt jetzt, dass sie eine große Hoffnung ist. Aber die EU merkt selbst, dass diese Vorstellung der großen glänzenden Zeit der Vollmitgliedschaft noch zu weit weg ist, als dass sie Attraktivität für den Einzelnen bieten könnte. Ich bin sehr dafür, dass wir stückweise herangehen. Es muss jetzt für die Menschen erkennbar sein, dass sie einen Vorteil haben, wenn sie in der EU sind. Ich glaube, dass wir neben der Mitgliedschaft eine regionale Zusammenarbeit setzen müssen - regionale Wirtschaftskooperation, die gegenseitige Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen. Also Dinge, die für die Lebensplanung junger Menschen entscheidend sind.

Kann man da auf eine konstruktiven Beitrag Kroatiens hoffen?

Ja, ich würde aber auch Slowenien mit dazu nehmen. Oder Serbien. Solange Serbien den Weg in die EU weiter geht - bei allen Schwingungen, die wir hier fühlen -, glaube ich, dass das ein wichtiger Hinweis sein könnte. Wenn das so bleibt, bin ich verhalten optimistisch.

Das sind ja Maßnahmen, die an gesellschaftliche Dynamiken in der Region geknüpft sind. Droht sich da die Türe zu schließen?

Ich würde sagen, wir haben noch fünf Jahre, um eine Basis zu schaffen, dass die junge Generation verstärkt hier bleibt. Wir haben die Situation, dass Bosnien-Herzegowina im Ranking des UNHCR, was den Bleibewillen und Migrationswillen der Bevölkerung angeht, gleich hinter Somalia und Haiti liegt. Wenn es uns gelänge, daran etwas zu ändern, wäre schon viel erreicht.