Zum Hauptinhalt springen

Staatlicher Feminismus spaltet Spanien

Von WZ-Korrespondent Manuel Meyer

Politik

Nach Abtreibungs- und Transgender-Debatten spaltet die neue Sexualstrafrechtsreform Spaniens Frauenbewegung.


Eine echte Gleichstellung von Frauen und Männern sei "noch 300 Jahre entfernt". Erschütternde und ernüchternde Worte, mit denen UNO-Generalsekretär António Guterres am Montag in New York die zweiwöchige Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen eröffnete. In vielen Ländern wie dem Iran oder in Afghanistan seien über Jahrzehnte errungene Fortschritte sogar wieder rückläufig und bedroht.

So gingen am Mittwoch von Wien über Bangkok bis hin nach Pakistan weltweit wieder hunderttausende Frauen für ihre Rechte auf die Straße. Zum Weltfrauentag versammelten sich auch auf dem Ottakringer Yppenplatz rund 7.000 Menschen mit bunten Fahnen und Plakaten für Gleichberechtigung und gegen Gewalt an Frauen.

In der spanischen Hauptstadt Madrid fand mit 27.000 Personen erneut eine der größten feministischen Kundgebungen in Europa statt. Teilnehmerzahlen, die jedoch weit hinter den 350.000 zurückblieben, die im Jahr 2019 am Weltfrauentag in Madrid gezählt wurden. Schlimmer noch: Die nur 27.000 Teilnehmerinnen verteilten sich auch noch auf zwei voneinander getrennte Protestmärschen, weil sich Spaniens eigentlich starke Frauenbewegung in zwei Lager gespalten hat. Auch in anderen Großstädten wie Bilbao, Sevilla oder Valencia veranstalteten die politisch gespaltenen Frauenbewegungen getrennte Kundgebungen.

Was ist passiert im Land, in dem sich die Regierungskoalition aus Sozialisten und der linken Podemos doch gerade den Kampf für die Frauen- und Gleichheitsrechte auf die Fahnen geschrieben hat? Spaniens sozialistischer Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE) bildete mit 14 Ministerinnen und einem Frauenanteil von 64 Prozent die weiblichste Regierung Europas.

Der "bekennende Feminist" richtete im Land der Kirchen und Stierkämpfer sogar ein Frauen- und Gleichheitsministerium ein, dem die Linke Irene Montero vorsteht.

Große Fortschritte

Und es wurde viel erreicht. Sogar die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen beträgt in Spanien nur noch 9 Prozent und damit bereits weniger als in Österreich, wo sie aktuell bei 12,7 Prozent liegt. Im vergangenen Jahr führte Spanien als erstes EU-Land auch einen bezahlten Menstruationsurlaub für Frauen mit starken Regelschmerzen ein. Pünktlich zum Weltfrauentag ließ Premier Sánchez am Dienstag von seinem Kabinett jetzt noch ein Gleichstellungsgesetz verabschieden. Demnach sollen auch in Spaniens zukünftigen Regierungen und Parlamenten Frauen und Männer gesetzlich ungefähr gleich stark vertreten sein. Mehr noch: Sogar in den Führungsspitzen großer Unternehmen und Verbände wird eine Frauenquote von mindestens 40 Prozent vorgeschrieben sein. "Wenn die Frauen die Hälfte der Gesellschaft stellen, dann steht ihnen auch die Hälfte der politischen und wirtschaftlichen Macht zu", stellte Sánchez am Dienstag klar.

Eigentlich müsste Spaniens Frauenbewegung zufrieden mit der Linksregierung sein. Doch ist es paradoxerweise die feministische Frauen- und Gleichstellungspolitik der Regierungskoalition, welche die Frauenbewegung und das ganze Land derzeit in Aufruhr versetzt. So stand am Mittwoch bei der größten der beiden Frauendemos in Madrid vor allem Spaniens feministische Galionsfigur, Gleichstellungsministerin Montero, im Mittelpunkt der Proteste, während sie auf der anderen Kundgebung gefeiert wurde. Hintergrund sind die jüngsten Gesetzesinitiativen über Abtreibungen, Transgender und Sexualverbrechen, welche die Gemüter vieler Bürger und Feministinnen zur Weißglut bringen und sogar einen Keil zwischen Sánchez’ Sozialisten und dem kleineren Regierungspartner Podemos schlagen.

Das Problem: Spanien steht heuer ein Superwahljahr ins Haus. Ende Mai finden landesweit Kommunalwahlen statt. Parallel müssen gleich zwölf neue Regionalparlamente gewählt werden. Im Dezember stehen dann Parlamentswahlen an. Die Wahlprognosen für die linke Podemos sehen nicht gerade rosig aus, weshalb sie vor allem mit ihren Frauen- und Gleichheitsinitiativen punkten will.

Auch die Sozialisten stehen hinter den Initiativen, wurden jedoch von den Linken zu extremen Positionen gedrängt, die selbst zahlreichen sozialistischen Ministerinnen und auch vielen Feministinnen eigentlich zu weit gingen. Die Sozialisten ließen sich aber überrumpeln. So brachte man Mitte Februar ein Gesetz durchs Parlament, das Abtreibungen zu einem öffentlichen und kostenlosen Gesundheitsrecht machte.

Sogar minderjährige Mädchen ab 16 Jahre können innerhalb der ersten 14 Wochen ohne Einwilligung ihrer Erziehungsberechtigten einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, und generell brauchen Frauen keine medizinische oder psychologische Beratung mehr wahrzunehmen. Auch die zuvor obligatorische Überlegungszeit wurde abgeschafft.

Was ist eine Frau?

Nicht weniger polemisch war das gleichzeitig verabschiedete Transgender-Gesetz, das bereits 16-Jährigen eine freie Geschlechtswahl durch eine einfache administrative Erklärung erlaubt und damit zu den progressivsten Regelungen in ganz Europa gehört. 14- bis 16-Jährige brauchen dafür zumindest noch die Erlaubnis ihrer Erziehungsberechtigen und 12- bis 14-Jährige zudem eine richterliche Erlaubnis.

Das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, das in Europa erstmals 2014 in Dänemark verabschiedet wurde und über dessen Einführung heuer auch in Österreich diskutiert wird, führte innerhalb der spanischen Frauenbewegung aber zu großen Verstimmungen. Durch die Tatsache, dass Transmenschen nun durch eine einfache Änderung beim Standesamt ihr Geschlecht ändern lassen können, und zwar ohne Hormonbehandlung, chirurgischen Eingriff oder ärztlichen Nachweis, sehen viele Feministinnen infrage gestellt, was eigentlich eine Frau sei.

Nicht wenige befürchten sogar, Männer könnten im Sport an Frauenwettbewerben teilnehmen, in Restaurants und Diskotheken Frauentoiletten oder in Sportstätten die Umkleidekabinen für Frauen aufsuchen. So waren beim Protestmarsch der Frauenbewegung Movimiento Feminista de Madrid am Mittwoch auch kaum Vertreter von Transsexuellen oder LGTBIQ zu sehen.

Susana Blazquez und ihre Freundinnen haben an der Kundgebung dieser Frauenbewegung teilgenommen, weil diese konkret das Verbot der Prostitution fordert. Blazquez wollte aber auch bewusst nicht an dem anderen Protestmarsch mit Ministerin Montero teilnehmen. Der Grund: Die 50-jährige Wirtschaftsingenieurin aus Madrid gibt der spanischen Gleichheitsministerin - zu Recht - die direkte Schuld dafür, dass seit vergangenem Herbst hunderte Vergewaltiger vorzeitig auf freien Fuß gekommen sind.

Was war geschehen? Erst im Oktober reformierte die Linkskoalition unter Federführung von Montero das spanische Sexualstrafrecht. Anstatt "Nein heißt Nein" galt ab jetzt das Prinzip "Nur Ja heißt Ja". Anlass für die Reform war eine Gruppenvergewaltigung während der berühmten Stierhatz in Pamplona. 2016 hatten sich fünf Männer, die sich selber "Das Rudel" nannten, auf dem Volksfest an einer 18-Jährigen vergangen, ihre Tat gefilmt und das Video anschließend über WhatsApp verbreitet. Weil die Polizei dem Gericht erklärte, dass sich das Opfer "passiv" verhalten habe, bekamen die Täter nur relativ geringe Strafen. Auch wenn der Oberste Gerichtshof das Strafmaß später anhob, war der Protest im Land groß.

"Nur Ja heißt Ja"-Prinzip

Sozialisten und Podemos verabschiedete daraufhin das "Nur Ja heißt Ja"-Gesetz. Demnach wird nun Sex gegen den Willen einer Frau auch dann als Vergewaltigung gewertet, wenn diese sich nicht wehrt oder widerspricht. Hintergrund: Vergewaltigungsopfer halten oft aus Angst oder im Schock still oder schweigen. Das neue Gesetz stellt sogar "einschüchternde" Komplimente unter Strafe.

Montero erklärte, das Gesetz sei das Ende der "Vergewaltigungskultur" in Spanien. Das Land folgt damit einem europäischen Trend. Bereits 13 europäische Staaten haben ähnliche Gesetze nach dem "Nur Ja heißt Ja"-Prinzip. In Schweden, wo dieses Zustimmungsprinzip zuerst eingeführt wurde, zeigte die neue Rechtslage Wirkung: Wurden 2018 noch 225 Personen wegen Vergewaltigung verurteilt, stieg die Zahl im nächsten Jahr auf 333. Davon konnten 76 Urteile nur wegen des neuen Gesetzes erfolgen.

Wie in Schweden sollte die Reform auch in Spanien eigentlich die Verurteilung von Sexualstraftätern erleichtern und Frauen besser schützen. Paradoxerweise führte es aber zu massenhaften Strafmilderungen und vorzeitigen Freilassungen von Sexualstraftätern, da im Zuge des modifizierten Strafkatalogs teilweise die Mindeststrafmaße abgesenkt wurden.

So stellten zahlreiche Straftäter Anträge auf eine Wiederaufnahme ihrer Verfahren. Die Folge: Seit Oktober wurde das Strafmaß für 721 Vergewaltiger heruntergesetzt, 74 kamen sogar vorzeitig wieder frei. Der Aufschrei in den Medien und der Gesellschaft war und ist enorm. Vor allem, nachdem im Jänner ein 39-jähriger Sexualverbrecher, der 17 Frauen vergewaltigt hatte, trotz hohem Rückfallrisiko vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, da seine Strafe von 15 auf 9 Jahre gesenkt wurde.

Gleichheitsministerin Montero gab jedoch der Justiz die Schuld, warf Staatsanwälten und Richtern "Machismo" und eine "fehlerhafte Anwendung" des "an sich guten Gesetzes" vor. Spaniens Richterverbände wiesen diese Behauptung vehement zurück. Man halte sich zudem an das Rechtsstaatsprinzip, dass auf jeden verurteilten Täter das günstigste Gesetz anzuwenden sei, hieß es.

"Nahezu fahrlässig"

Gregorio Gomez Mata, Vorsitzender von Alma, dem spanischen Verband gegen häusliche Gewalt, bezeichnet Monteros Verhalten als "narzisstisch, egozentrisch und nahezu fahrlässig". Denn: "Richter und Experten haben bereits im Vorfeld davor gewarnt, dass diese Gesetzesreform Strafmilderungen provozieren wird, und Montero hat alle Warnungen ignoriert", sagt Gomez Mata. "Hinter dem Gesetz stecken ja gute Beweggründe und Vorsätze, aber es ist ein einziges Pfuschwerk", so der Alma-Vorsitzende weiter.

Gregorio Gomez Mata, Vorsitzender des spanischen Verbands gegen häusliche Gewalt.
© Manuel Meyer

Die Schuld nun auf die Richter zu schieben, komme dabei sogar "machistischem" Verhalten gleich, meint Gomez Mata: "So wie schlagende oder vergewaltigende Männer die Schuld im Verhalten der Frauen suchen, gibt Gleichheitsministerin Montero nun der Justiz die Schuld. Das ist einfach unglaublich."

Die Idee hinter dem "Nur Ja heißt Ja" findet er gut, da es verhindert, dass Frauen vor Gericht auch noch beweisen müssen, dass Gewalt vorlag oder sie sich gewehrt haben. Aber es sei auch nicht optimal. "Denn vor allem in einer Beziehung sagt die Frau oftmals Ja, um vielleicht Schläge oder andere Strafen zu verhindern." Damit es Frauen erleichtert wird, Anzeige zu erstatten, spricht er sich dafür aus, dass Frauen nicht zur Polizei müssen, sondern erst einmal in einem Gesundheitszentrum von einer Psychologin und einer Ärztin der Tatbestand der Vergewaltigung verifiziert werden soll. So könnte man eventuell verhindern, dass nur 8 Prozent der Opfer von sexuellen Übergriffen Anzeige erstatten. Vor allem fordert er aber eine verbesserte Sexualaufklärung in Spanien. "Kinder und Jugendliche erhalten ihre sexuelle Aufklärung heutzutage vor allem über den Konsum von Pornos, wodurch sexuelle Gewalt für viele als normal angesehen wird", erklärt Gomez Mata.

Dabei ziehen Experten auch zunehmend Verbindungen zwischen dem Internet und Gruppenvergewaltigungen, die vor allem in Spanien in jüngster Zeit immer häufiger bekannt werden. Der jüngste Fall ereignete sich im November, wurde aber erst an diesem Mittwoch öffentlich. In einem Einkaufszentrum in Badalona bedrohten mehrere Jugendliche ein erst elfjähriges Mädchen mit einem Messer und missbrauchten es sexuell auf der Toilette. Die Justiz kann kaum etwas tun, da die meisten der Täter unter 14 Jahre und damit nicht strafbar sind.

Unterdessen berichten die Medien seit Wochen vom brasilianischen Fußballprofi Dani Alves. Der ehemalige Spieler des FC Barcelona sitzt wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung in Untersuchungshaft. Er soll sich am 30. Dezember auf der Toilette einer Diskothek im Zentrum von Barcelona an einer 24-Jährigen vergangen haben.

Podemos schäumt vor Wut

Die Fälle führen zu einem Aufschrei in der spanischen Bevölkerung. Dass durch das neue Sexualstrafrecht jetzt nun auch noch Vergewaltiger vorzeitig freikommen, bringt für die meisten das Fass zum Überlaufen. Dessen ist sich auch Premier Sanchez bewusst und blickt bange auf die kommenden Wahlen. Da Podemos jedoch nicht zurückrudern oder Fehler eingestehen will, verabschiedeten die Sozialisten am Dienstag nun mit den Stimmen der konservativen Opposition und der Enthaltung der Rechtspopulisten gegen den Willen des Koalitionspartners eine Revision der polemischen Strafrechtsreform.

Podemos schäumt vor Wut. "Wir wollen keine Rückkehr zu einem patriarchalischen System, in dem die Opfer gefragt werden, ob sie ihre Beine auch richtig geschlossen hatten", wetterte Gleichstellungsministerin Montero und warf den Sozialisten "Verrat am Feminismus" vor. Zu Recht befürchten die Sozialisten, dass der Streit um das "Nur Ja heißt Ja"-Gesetz nicht nur die Regierungskoalition wackeln lassen, sondern auch die Wiederwahl im Dezember in Gefahr bringen könnte. Die Opposition reibt sich bereits die Hände. "Wir haben Angst, auf die Straße zu gehen und den Vergewaltigern zu begegnen, die Sie freigelassen haben", wetterte Carla Toscano von der rechtspopulistischen Vox am Dienstag während der Parlamentsdebatte.

In Österreich wird jede dritte Frau Opfer von sexueller Gewalt

Laut Umfrage der Statistik Austria vom vergangenen November war jede dritte Frau ab 15 Jahren in Österreich schon einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt. Insgesamt 282.480 Frauen wurden ab diesem Alter in Österreich bereits vergewaltigt. In der Schweiz und den Niederlanden werden gerade heftige Debatten geführt, nach Spanien ebenfalls auf das Zustimmungsprinzip des "Nur Ja heißt Ja" zu wechseln. Auch in Österreich gibt es immer wieder solche Forderungen. Klaudia Frieben, Vorsitzende des Österreichischen Frauenringes, hält das in Österreich aber nicht für nötig. Hierzulande gilt seit 2016 der Grundsatz "Nein heißt Nein". Das funktioniere gut, sagt sie. Dennoch kritisiert Frieben, dass selbst durch das zusätzliche Gewaltschutzgesetz von 2019 in den meisten Fällen das Strafausmaß nicht ausgeschöpft werde. Sie gibt aber zu bedenken, dass ein Täter sich nicht von höheren Strafen abschrecken lasse. Frieben fordert vor allem aber einen veränderten Umgang mit den Frauen: "Die Erfahrungsberichte haben gezeigt, dass Frauen Vergewaltigungen nicht anzeigen, weil sie befürchten, nicht ernst genommen werden und weiterhin dem Täter ausgeliefert sind." In der Tat: Acht von zehn Anzeigen werden eingestellt.

Nach Abtreibungs- und Transgender-Debatten spaltet nun die neue Sexualstrafrechtsreform Spaniens Frauenbewegung und bedroht sogar die linke Regierungskoalition im Superwahljahr 2023.