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Ein Land voller Tatorte

Von WZ-Korrespondent Stefan Schocher

Politik
Vor einigen Jahren war es noch untersagt, Blumen niederzulegen.
© CNA / Vukosavljevic

Eine Gruppe Veteranen aus allen Lagern versucht, Verbrechensorte sichtbar zu machen, und gedenkt gemeinsam der Opfer.


Als Marjan Krajina aus dem Auto in den nassen Schnee steigt und die Baracke vor sich sieht, zittert er. Ein kahler grauer Bau, verlassen, in einem Tal neben dem Fluss am Rande des Dorfes inmitten dunkler Bäume. Er kennt den Ort. In Kacuni hat er gelebt, unterrichtet - ein Dorf nicht weit von Sarajevo. Er geht direkt zu schweren Eisentor an der Breitseite der Baracke. Das Tor ist verschlossen. Da steht er, blickt sich um, stapft dann aber plötzlich los, biegt um die Ecke, gebückt, hinkend, wird schneller, öffnet ein Tor an der Längsseite - und erstarrt: Plastikflaschen, herausgerissene Kabel, Mauerstaub, keine Fenster, Dunkelheit, kahle Betonwände voller Erinnerungen.

Noch am Vorabend hat Marjan Krajina gesagt, er werde hier niemals wieder hineingehen - jetzt aber steht er da. Seine Augen füllen sich mit Tränen. 30 Jahre sind sie her, diese 72 Tage, seit denen nichts mehr so war und ist wie davor. "Ich kann nicht fassen, was passiert ist", sagt er. Jeden Schritt habe er gehasst danach. Dabei habe er die Menschen immer geliebt. Jede Nacht liege er seither wach im Bett, könne nicht schlafen.

Kacuni ist ein Ort, an dem Verbrechen passiert sind. Einer von vielen Orten in Bosnien-Herzegowina. Und Kacuni ist ein Ort, in dem Verbrechen passiert sind, über die kaum jemand spricht. Kacuni ist ein Tatort. Bosnien ist ein Land voller Tatorte: Lagerhäuser am Dorfrand, verlassene Hallen in der Einöde, heutige Baumärkte am Stadtrand, Brücken. Verbrechen sind an diesen Orten während des Krieges passiert, die nur zu einem verschwindend kleinen Teil juristisch aufgearbeitet sind. Orte sind das auch, die nie erkenntlich gemacht worden sind.

Und so lehnt eine Dame am Gartenzaun, als Krajina schniefend im Schnee vor der Halle steht, blickt unbeteiligt hinunter zu der Gruppe von Menschen auf dem Wendeplatz vor der Baracke auf der andren Straßenseite.

Eine Zeit wie ein Fiebertraum

Erinnerung ist ein Minenfeld in Bosnien. Die Erinnerung an den Krieg 1992 bis 1995. Auch 30 Jahre danach ist das eine Epoche voller emotionaler wie auch politischer Fallstricke. Eine Zeit, an die man sich erinnert wie an einen Fiebertraum, über den man nicht reden will. Da komme es schon vor, dass Opfer und einstige Folterknechte mitunter nach wie vor in der selben Stadt lebten und einander im Alltag mit einem saloppen "Hallo, wie geht’s?" auf der Straße begegneten, wie ein ehemaliger Lagerinsasse sagt - das aber, ohne dass das Thema untereinander jemals angesprochen wurde.

Dass Krajin nun hier steht, hat einen Grund: Der Besuch ist Teil einer Aktion des Zentrums für Gewaltfreie Aktion (CNA), lokaler Partner von Kurve Wustrow im Rahmen des zivilen Friedensdienstes. Ziel ist es, Veteranen aller Lager und Lagerinsassen zusammen an Orte zu bringen, an denen Verbrechen geschehen sind, um der Opfer zu gedenken. Tarcin, Kacuni, Zepce, Polje sowie Doboj sind die Stationen dieses zweitägigen Aktion - ein Wochenendausflug wie eine emotionale Berg- und Talfahrt. Einen Dialog zu starten ist das Ziel.

"Das Schwierigste war es, eine Gruppe zusammenzustellen", sagt Nenad Vukosavljević, Aktivist beim CNA. Er begleitet die Tour. Schwierig sei das vor allem gewesen, weil man für eine solche Gruppe Leute aus allen Lagern brauche. Dass Opfer aus Internierungslagern wie Krajina mitgenommen wurden, war überhaupt das erste Mal.

50 Veteranen und frühere Gefangene aller Lager des Bosnien-Krieges haben sich aufgemacht, um zusammen diese Orte zu besuchen. Da ist der Mann, dem als Angehöriger einer ethnischen Minderheit in seinem Dorf von einstigen Spielgefährten mit Hufeisenzangen die Zähne gerissen wurden. "Ich bin hier als Kind mit dem Rad gefahren", sagt er vor dem Bau stehend. Da ist ein Mann, der in Lagerhaft gezwungen war, Wasser aus der Heizanlage zu trinken. Da ist der Mann, der in Gefangenschaft von Soldaten vergewaltigt und mehrmals scheinhingerichtet wurde und der heute noch immer wieder an dem Haus vorbei fährt, wo all das passiert ist. Da ist der Dorflehrer Krajina, der in Gefangenschaft von einstigen Schülern gezwungen wurde, seinen Bruder zu schlagen, und wenn er das nicht tat, bewusstlos geprügelt wurde; der die Schreie seines Sohnes aus einer anderen Zelle hörte: "Ich habe mir die Finger in die Ohren gesteckt, um das nicht zu hören", sagt er, in seiner ehemaligen Zelle stehend. Mit seinem beiden Söhnen habe er aber nie darüber geredet, was hier passiert ist, sagt er später.

Eine Bitte um Verzeihung

Vor der Baracke rauchen Veteranen, stapfen im Schnee. Krajina steht etwas verloren dazwischen, wischt sich die Augen aus, da tritt ein Mann an ihn heran, reicht ihm die Hand. Edin Ramulic heiße er, einst Soldat jener Armee, unter deren Kommando die Baracke in Kacuni ein Gefangenenlager war. Unverzeihlich sei das, was Krajina angetan worden sei, sagt der Veteran. Unmenschlich. Das wolle er ihm nur sagen. Und, dass es ihm leid tue. Ramulic ist der einzige männliche Überlebende seiner Familie. Auch er war in einem Lager. Auch er weiß, wie es ist, zu hören, wie sich die Wärter betrinken, und zu wissen, dass sie dann kommen werden, um ihre Wut an Gefangenen abzulassen.

"Es gibt keine Waage für Grausamkeit", wird einer der Männer am Ende dieses Wochenendes sagen. Und ein anderer wird sagen: "Ein Täter ist ein Täter, und es ist egal, ob er Serbe ist ob Kroate oder Bosnier." So manch Hünen von 120 Kilo wird die Stimme versagen. Manche werden sich abends zusammen besaufen.

"Ungekennzeichneter Ort des Leidens - an diesem Ort, im vergangenen Krieg, wurden unmenschliche Taten begangen. Wir wollen diese Ereignisse nicht dem Vergessen übergeben. Wir zeigen Solidarität mit den Opfern. Es soll sich nie wiederholen." Das steht auf großen Schildern und Aufklebern, die die Aktivisten des Zentrums für Gewaltfreie Aktion und die Veteranen und Ex-Gefangenen bei ihren Besuchen an Objekten anbringen - in Tarcin, Kacuni, Zepce, Polje in Doboj. Sie kommen, sie halten inne, sie legen Blumen nieder, sie erzählen vor allen, was hier passiert ist, bringen den Aufkleber an, manche umarmen einander oder reichen einander die Hände, manche weinen.

Von tausenden vermuteten Tatorten von Kriegsverbrechen - Orte, an denen gefangene Soldaten wie Zivilisten erschossen oder unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten wurden - sind in Bosnien-Herzegowina lediglich 136 dokumentiert. Und davon wiederum sind nur die wenigsten sichtbar markiert. Das wird dem, was passiert ist, nicht einmal im Ansatz gerecht: 100.000 Menschen starben in den drei Jahren, die der Bosnien-Krieg gedauert hat. Zeitweise waren 50 Prozent der Bevölkerung des kleinen Landes auf der Flucht. Einzelne Verbrechen in diesem Krieg werden als Genozid bewertet. Die Rede ist von nach wie vor rund 500.000 Veteranen in diesem gerade einmal knapp 3 Millionen Einwohner zählenden Land. Kurz: Der Krieg ist ein bestenfalls im Ansatz aufgearbeitetes kollektives Trauma.

Vor allem aber ist die politische Gegenwart eine, die die Einkapselung in ethnischen Gruppen eher verstärkt als aufhebt. Kinder gehen getrennt zur Schule. Im politischen Diskurs überwiegen nationalistische Töne. Die Aussöhnung ist kein bevorzugtes politisches Themenfeld - angefangen bei den Gemeinden über die Kantone bis nach ganz oben. Nur eines zieht sich dabei fast durchwegs quer durch Land und Verwaltungsebenen: Die Schuld der jeweiligen Mehrheitsethnie in einem Gebiet auch nur anzusprechen, ist politisch riskant, dafür aber ist es umso einfacher, sich der eigenen Opferschaft zu bedienen. Und daher reisen die Veteranen zu Beginn auch mit einer Polizeieskorte. Die Bürgermeister der jeweiligen Orte waren alle zu den Gedenkaktionen der CNA eingeladen, wie es seitens der Organisatoren heißt. Gekommen ist keiner. Eine "Schande" nennt das ein Veteran.

Nur vergessen kann er nicht

Aber immerhin: Bei vorangegangenen Aktionen gab es offene Störaktionen, erzählt ein Aktivist. Zumindest die würden seltener. Immerhin sei es den Aktivisten mittlerweile auch erlaubt, die Orte zu besuchen. Als Krajina vor zwölf Jahren zum ersten Mal wieder in das Dorf gekommen war, in dem er einst gelebt und unterrichtet hatte, ließ man ihn nicht zu der Halle am Ortsrand. Ohne Begründung, wie er sagt. Bei anderen Aktionen wurde es den Aktivisten von der Polizei untersagt, Blumen niederzulegen.

All das gab es diesmal nicht. Aber dass die Aufkleber und Schilder eher symbolisch angebracht wurden und wohl schon nach wenigen Stunden nicht mehr hier sein werden, ist allen klar. Doch dann macht eine Schnapsflasche die Runde im Bus, wandert zwischen den Männern. Erleichterung.

Es ist Samstagabend. Im Hotel spielt eine Liveband. Gäste tanzen, trinken, johlen. Krajina hat sich Krautsalat, Brot, Makkaroni und Erdäpfel aufgeladen. Dazu zwei Stück Kuchen und Kola. Er legt den Kopf schief, schmunzelt, kramt seine Deutschkenntnisse hervor, rezitiert ein Kindergedicht, zwinkert, streicht sich durchs weiße Haar. Verzeihen könne er sehr wohl, nur vergessen könne er nicht, sagt er. Der Bass hämmert die Nacht lang. Am nächsten Morgen steht Krajina aber da und strahlt: So gut geschlafen habe er.

Erinnerung ist ein äußerst sensibles Thema in Bosnien-Herzegowina. Eine Gruppe Veteranen aus allen Lagern versucht allerdings, Verbrechensorte sichtbar zu machen, und gedenkt gemeinsam der Opfer.