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Schottische Disziplinlosigkeiten

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Unabhängigkeitsbewegung durchziehen tiefe Gräben. Das zeigt Suche nach Nachfolge von Sturgeon in SNP.


Ihre emotionalen Worte brachten Nicola Sturgeon viel Applaus ein. Schottlands scheidende Regierungschefin hat sich am Donnerstag im Regionalparlament verabschiedet. "Worte werden niemals die Dankbarkeit und Ehrfurcht in meinem Herzen für die Möglichkeit ausdrücken, als Ihr ‚First Minister‘ zu dienen", sagte Sturgeon.

Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit ihrem unerwarteten Rücktritt die Unabhängigkeitsbewegung in Schottland in eine schwere Krise geraten ist. Seit die weithin populäre Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP) im Februar überraschend ihren Abgang bekanntgab, ist regelrechte Panik aufgekommen bei der SNP.

Denn der bittere Kampf um die Nachfolge Sturgeon hat tiefgreifende Gegensätze und generelle Verunsicherung bei den Verfechtern schottischer Selbstbestimmung zutage gefördert. Zwar war es auch Sturgeon in ihren acht Jahren als Partei- und Regierungschefin nicht gelungen, den Unabhängigkeits-Traum ihrer Anhänger zu erfüllen - oder auch nur ein neues Referendum zu diesem Zweck durchzusetzen. Aber ihre Partei, die SNP, hatte sie auf bemerkenswerte Weise zusammengehalten. Und sie hatte dieser Partei, über mehrere stolze Wahlsiege, eine bis heute unangefochtene Stellung als dominierende politische Kraft in Schottland verschafft.

Ob die SNP diese Stellung wird halten können, fragen sich nun aber viele Mitglieder. Denn die gegenwärtige Nachfolgeschlacht, deren Ergebnis am Montag feststehen soll, hat bereits zu ernsten Brüchen im Verbund der Nationalisten geführt.

Die historische SNP-Koalition aus sozialliberalen Städtern, Pro-Europäern, Anti-Tory-Gewerkschaftern und schottischen Traditionalisten droht den Zusammenhalt zu verlieren. Darüber hinaus ist das Bündnis mit den Grünen in Gefahr, die ebenfalls für Unabhängigkeit eintreten - und ohne die die SNP im Edinburgher Parlament keine Mehrheit hat.

Klar war schon bald nach Sturgeons Rücktrittserklärung im Februar, dass es keinen Nachfolgeplan gab, keinen Konsens in dieser Frage. Bekannte Veteranen wie Vize-Regierungschef John Swinney oder wie die vormaligen SNP-Fraktions-Vorsitzenden in Westminster, Angus Robertson und Ian Blackford, mochten erst gar nicht antreten. Sie winkten frühzeitig ab und überließen einer jüngeren Garde von Kolleginnen und Kollegen das Feld.

Am Ende blieben drei Kandidaten: Sturgeons 32-jährige Finanzministerin Kate Forbes, der 37-jährige Gesundheitsminister Humza Yousaf und die 49-jährige Ex-Staatssekretärin Ash Regan, die schon vor einiger Zeit aus Protest gegen ein neues Transgender-Gesetz Sturgeons aus der Regierung ausgeschieden war.

Strenge Religiosität von Forbes schreckt viele ab

Forbes, dem "Nachwuchstalent" der SNP, wurden dabei zunächst die besten Aussichten eingeräumt. Die aus den Highlands stammende Politikerin, die es binnen weniger Jahre in die Parteispitze schaffte, ist - oft schon wegen ihrer Jugend und Energie - auch bei vielen Nicht-SNP-Wählern beliebt.

Zweifel an ihrem Führungsvermögen in der SNP hat allerdings ihre strenge Religiosität hervorgerufen, die in deutlichem Gegensatz zum liberalen, reformbedachten Kurs Sturgeons steht. Als Mitglied der calvinistischen "Freien Kirche Schottlands" hängt Forbes ausgesprochen sozialkonservativen Werten an. Als sie dazu nun befragt wurde, räumte sie ein, dass sie nicht nur - wie ihre Rivalin Ash Regan - in der Transgender-Debatte Sturgeons Politik ablehnend gegenüberstand. Sie hätte auch vor einigen Jahren gegen gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt, wenn sie schon Parlamentarierin gewesen wäre.

Zusätzliche Aufregung verursachte sie mit der Bemerkung, sie persönlich halte es für falsch, dass Kinder außerhalb der Institution der Ehe geboren oder aufgezogen würden. Natürlich, fügte sie schnell hinzu, schreibe sie so etwas niemandem, der andere Überzeugungen habe, vor.

Ihre Kritiker in der SNP finden es allerdings fast noch problematischer, dass Forbes relativ konservative Ansichten auch im Wirtschaftsbereich vertritt. Dass sie den Interessen der Geschäftswelt mehr als bisher entgegenkommen möchte und das Ende der Gas- und Ölproduktion in der Nordsee eher hinauszögern würde. Eine von vielen SNP-Leuten geforderte Anhebung der Steuersätze für die Reichsten im Land lehnt sie ab, auch wenn es an Geld für die öffentlichen Dienste zunehmend fehlt.

Gesundheitsminister Yousaf, ihr schärfster Konkurrent, hat Forbes bereits vorgehalten: "Die Tories haben keine Angst vor dir, Kate - sie drücken dir geradezu die Daumen." Daraufhin stellte Forbes die Kompetenz Yousafs in Frage: "Als du Verkehrsminister warst, Humza, liefen die Züge nicht rechtzeitig ein. Als du Justizminister warst, war die Polizei praktisch am Ende. Und nun, da du Gesundheitsminister bist, haben wir rekordhohe Wartezeiten im Gesundheitsbereich."

Schockiert zeigten sich SNP-Aktivisten, deren Partei bislang für ihre Selbstdisziplin bewundert wurde, über einen derartigen Ton, über eine solche Bereitschaft zur gegenseitigen Herabsetzung. "So gespalten wie jetzt" habe man die SNP "noch nie" erlebt, triumphierten Schottlands Labour Party und die schottischen Konservativen schadenfroh.

"Wischi-waschi" und "verlorene Orientierung"

Den Kandidaten war das gleichgültig. Sollte die SNP Yousaf zum neuen Partei- und Regierungschef wählen, entscheide sie sich, statt Neues zu wagen, für eine Politik "jämmerlicher "Mittelmäßigkeit", befand Forbes. Ein "Rechtsruck" mit Forbes würde die Partei aller Chancen auf künftige Wahlerfolge berauben und die SNP die Unterstützung der britischen Grünen kosten, entgegnete Yousaf.

Auch Ash Regan, der nur geringe Chancen in diesem Wettstreit vorausgesagt werden, ließ es sich nicht nehmen, ein paar Hiebe auszuteilen. Die SNP habe völlig "die Orientierung verloren", und die Pläne ihrer Konkurrenten im Kampf um Unabhängigkeit seien "Wischi-waschi", erklärte sie.

Tatsächlich herrscht weitgehende Ungewissheit darüber, wie es weitergehen soll im Kampf um nationale Selbstbestimmung, da sich London beharrlich weigert, dem Verlangen nach einem neuen Unabhängigkeits-Referendum nachzugeben, und in Meinungsumfragen einfach keine dauerhafte Mehrheit für die Trennung von England zusammenkommt.

Viele SNP-Aktivisten können ihrer bisherigen Vorsitzenden unter diesen Umständen nicht vergeben, dass sie die Partei mit ihrem unerwarteten Rücktritt und ohne geregelte Nachfolge in derartige Schwierigkeiten gebracht hat. Zusammen mit den bitteren Fehden der Nachfolgekandidaten könnte das die schottischen Nationalisten eine Menge Sympathien und Stimmen kosten - egal, wer die Wahl zum Vorsitz letzten Endes gewinnt.