Es war ein Erfolg, der schon damals als historisch galt: Am Karfreitag vor 25 Jahren, am 10. April 1998, gelang nach 22-monatigen Verhandlungen eine Einigung auf ein Friedensabkommen für die britische Provinz Nordirland.

Ein Vierteljahrhundert später steht fest: Das Abkommen ist "sehr, sehr erfolgreich bei der Beseitigung großer, organisierter Gewalt" gewesen, meint der Friedensforscher John Brewer. "Wir töten, beschießen und bombardieren uns nicht mehr gegenseitig. Aber wir leben immer noch in ziemlich getrennten Welten" - etwa, was Eheschließungen, Wohngebiete und Freizeitaktivitäten betreffe, betont der Soziologie-Professor von der Queen’s University Belfast gegenüber der Austrian Presse Agentur.

"In den 25 Jahren seit dem Karfreitagsabkommen hat es 155 politische Morde gegeben - der letzte war jener an der Journalistin Lyra McKee -, und das sind 155 Tote zu viele. Aber in den schlimmsten Jahren der ‚Troubles‘ wären es in einem oder zwei Monaten 155 gewesen."

Als "ziemlich erfolgreich" habe sich das Friedensabkommen auch im Hinblick auf die Reform von Institutionen erwiesen - "ziemlich" deshalb, weil die Vereinbarung zur Machtteilung zwischen den wichtigsten Parteien der konfessionellen Gruppen in den vergangenen 25 Jahren häufiger ausgesetzt gewesen sei, als sie funktioniert habe. Auch aktuell gibt es keine funktionsfähige Regionalregierung. Aber abseits der Regierung haben "alle anderen Institutionen funktioniert", sagt Brewer.

"Was uns missglückt ist, das ist die Friedenskonsolidierung", unterstreicht der Experte. Damit meine er "die Wiederherstellung zerbrochener Beziehungen, die Wiederherstellung von Vertrauen, die Wiederherstellung einer widerstandsfähigen Zivilgesellschaft. Da haben wir sehr schlecht abgeschnitten. Der ganze Fokus war darauf gerichtet, die Institutionen zum Laufen zu bringen - in der naiven Annahme, dass sich die Gesellschaft selbst heilen wird, wenn man die problematische Politik in Ordnung bringt. Aber ganz offen gesagt, ist diese Annahme schlichtweg falsch. Das hat nie funktioniert - in Südafrika nicht und in keinem anderen Friedensprozess."

Auch heutzutage wohnten die Menschen in Nordirland im Großen und Ganzen immer noch in getrennten Gebieten, heirateten zumeist nicht über die Konfessionsgrenzen hinweg und schickten ihre Kinder nicht in integrierte Schulen. "Es gibt Anzeichen für Veränderungen, aber im Allgemeinen leben die Menschen immer noch zwar Seite an Seite, aber in verschiedenen Welten", sagt der Soziologe. "Wir haben also das, was ich einen ‚kalten‘ Friedensprozess nennen würde."

"Besessenheit von der Vergangenheit"

Brewer spricht in diesem Zusammenhang auch von einer "Besessenheit von der Vergangenheit": "Wir haben einen Friedensprozess, in dem wir ständig rückwärts schauen. Wir benutzen die Vergangenheit als Veto gegen die Zukunft. Die Debatten über die Moral der Vergangenheit dauern immer noch an - wer hat am meisten getötet, wer war am abscheulichsten." Brewer bezeichnet derartige Debatten als "moralisch höchst verwerflich": "Wir müssen damit anfangen, die Zukunft in einer Weise zu betrachten, die uns ermutigt, in Toleranz zusammenzuleben."

Manche in Nordirland seien mittlerweile ziemlich desillusioniert über die Art und Weise, "wie politische Parteien immer weiter die alten konfessionellen Kämpfe - metaphorisch, nicht physisch - neu ausfechten", sagt der Soziologe. "Unterstützer des Karfreitagsabkommens sind desillusioniert über das langsame Tempo, in dem wir lernen, miteinander zu leben, während die Gegner des Karfreitagsabkommens - also jene, die es abgelehnt haben - versuchen, es zu demontieren."

"Die EU war ein großer Nivellierer"

Und der schleppende Prozess hat mit dem Brexit noch einen zusätzlichen Bremsklotz bekommen.

"Die EU war ein großer Nivellierer, weil sie dafür gesorgt hat, dass die Dinge ähnlich und die Regulierungen gleich geblieben sind, und das ist jetzt weggefallen. Und das hat viele ernsthafte Probleme verursacht", meint Gina McIntyre, CEO des infolge des Karfreitagsabkommens eingerichteten Sondergremiums für EU-Programme (SEUPB) in Belfast.

Wegen des Friedens auf der ganzen Insel habe es sehr positive wirtschaftliche Veränderungen gegeben. Dank vieler Investitionen habe sich Nordirland und speziell Belfast komplett gewandelt, erklärt McIntyre, deren Institution für die Verwaltung von EU-Mitteln im Rahmen von grenzüberschreitenden Programmen zuständig ist. Diese Programme laufen trotz des Brexits weiter.

"Aber der Brexit hat einen andauernden Zustand der Instabilität in den vergangenen sieben Jahren verursacht, und das fordert seinen Tribut" - sozial, zwischen den Gemeinschaften, aber auch wirtschaftlich, "weil Unternehmen nicht wussten, womit sie hier konfrontiert waren. Ich hoffe sehr, dass der gerade (zwischen London und Brüssel, Anm.) vereinbarte ‚Windsor-Rahmen‘ für ein wenig Stabilität sorgt", sagt McIntyre und verweist auf die fehlende Regierung in Nordirland.

Die größte protestantisch-unionistische Partei DUP, die für den Brexit eingetreten war, habe sich gewünscht, dass Nordirland genauso behandelt werde wie der Rest des Vereinigten Königreichs. "Aber das hätte aufgrund des Karfreitagsabkommens unmöglich geschehen können. Denn dann würde die Grenze zwischen Nordirland und Irland wiederhergestellt werden, und das Karfreitagsabkommen hat diese Grenze entfernt." Die Mehrheit der Menschen in Nordirland hat gegen den Brexit gestimmt.

McIntyre verweist auch auf soziale Probleme speziell in Arbeitervierteln, die schon während des Nordirland-Konflikts am meisten gelitten und wohl auch vom Frieden weniger profitiert hätten und die immer noch von paramilitärischen Gruppen kontrolliert würden. Dort leide man noch am meisten an über die Generationen weitergegebenen Traumata. Die Folge seien vermehrt psychische Probleme und Drogen- oder Alkoholabhängigkeit. "Leider haben wir auch die höchste Selbstmordrate vor allem bei jungen Männern in ganz Europa, und die höchste Rate bei Gewalt gegen Frauen." (apa)