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Alleine beim Ausstieg aus der Atomkraft

Von Alexander Dworzak

Politik

In Deutschland endet die Ära der Atomverstromung. Andere EU-Staaten setzen angesichts des Krieges in der Ukraine auf Kernkraft.


Ein Jubeltag für die Grünen steht bevor. Am Samstag nimmt Deutschland Abschied von der Atomverstromung. Die letzten drei Reaktoren werden vom Netz genommen: Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und Emsland im nordwestlichen Niedersachsen. Nach Jahrzehnten auf der Straße und dem Marsch durch die Institutionen hat die Öko-Partei ihr zentrales Anliegen durchgesetzt. Feierlaune kommt dieser Tage dennoch nur gedämpft auf. Vielmehr ist Wirtschaftsminister Robert Habeck mit Beruhigungsbotschaften an Bürger und Unternehmen beschäftigt: "Die Energieversorgungssicherheit in Deutschland wurde in diesem schwierigen Winter gewährleistet und wird auch weiter gewährleistet sein."

So kurz vor Abschaltung der Reaktoren packt manchen Entscheidungsträger in der Bundesrepublik die Angst vor der eigenen Courage. Die vielzitierte "Zeitenwende", von der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine sprach, sie tritt im Energiesektor viel schneller und deutlicher zutage als bei der Hochrüstung der maroden Bundeswehr. Von günstigen russischen Rohstoffen, Antriebskraft der auf Export getrimmten Wirtschaft und Basis von Millionen Haushalten, verabschiedete sich die Bundesregierung weitgehend. Die wichtigste Bezugsquelle für Erdgas ist mittlerweile Norwegen. Dahinter rangieren Belgien und die Niederlande. Die beiden Nachbarstaaten Deutschlands verfügen über große Flüssiggas-Terminals (LNG) in Hafengebieten.

Drei Anlagen, welche die Bundesrepublik mit LNG versorgen sollen, sind mittlerweile in Betrieb genommen. Bezeichnend dabei: Jahrelang herrschte weitgehend Stillstand bei diesen Projekten. Erst nachdem Russlands Machthaber Wladimir Putin Ende Februar 2022 den Einmarsch in der Ukraine befohlen hatte, wurde in Berlin die Entscheidung für schwimmende LNG-Terminals als Übergangslösung gefällt. Bei aller Kritik an schwerfälligen Entscheidungsprozessen in Demokratien - gerne mit Blick auf schnelle Umsetzungen in China - darf aber nicht unterschlagen werden, dass Kanzler Scholz bereits Mitte Dezember den ersten Flüssiggas-Terminal in Wilhelmshaven eröffnete.

Zwei weitere Stätten wurden zwischenzeitlich übergeben. Bis Ende dieses Jahres soll die Anzahl auf sechs Terminals steigen mit einer Gesamtkapazität von circa 30 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Das wäre allerdings nur rund ein Drittel der im Jahr vor dem Krieg, 2021, von Deutschland importierten Gasmenge.

Sparen ist daher angesagt in der Bundesrepublik, was in diesem Winter - auch aufgrund der milden Temperaturen - tatsächlich gelungen ist. Haushalte und Gewerbe haben von Jahresbeginn bis Anfang April um 16 Prozent weniger verbraucht als im Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021, ergaben Berechnungen des ZDF. In der Industrie wurde sogar ein Minus von 19 Prozent erzielt. In Sicherheit wiegen wäre jedoch trügerisch: Selbst wenn die Gasspeicher vollständig gefüllt sind, reichen sie für lediglich rund zwei Wintermonate.

Diese Perspektive sorgt für Nervosität, der Wunsch nach Sicherheit und Berechenbarkeit fördert den Ruf nach der Kernkraft. Bis zur "vollständigen Substitution des russischen Erdgases durch andere Quellen" sollen die drei deutschen AKW "reaktivierbar" bleiben, fordert die FDP. Die Freien Demokraten rechnen damit, dass dies im Frühjahr 2024 eintritt. Davon wollen die Grünen nicht wissen, bereits im vergangenen Jahr Hauptgegner der FDP beim koalitionsinternen Streit um die AKW-Laufzeitverlängerung. Damals konnte Scholz den Zwist nur schlichten, indem er seine Richtlinienkompetenz ausspielte. Dabei legte der Kanzler auch das Enddatum 15. April 2023 fest.

Belgiens Rücknahme des Rückzugs

Es ist nahezu ausgeschlossen, dass Scholz dieses Ziel kurzfristig kassiert. Nachbar Belgien hat allerdings das für 2025 angesetzte Ende der beiden Meiler Tihange 3 und Doel 4 zurückgenommen. Diese werden erst modernisiert und sollen dann zehn Jahre am Netz bleiben - ein Schritt, den selbst die grüne Energieministerin Tinne Van der Straeten als alternativlos bezeichnet. Noch nicht so weit sind die Pläne in einem anderen deutschen Nachbarstaat. Nach jetzigem Stand aber wollen die Niederlande bis zum Jahr 2035 zwei weitere Kernkraftwerke errichten.

Und auch östliche Nachbarn forcieren die Atomkraft. Tschechien will neben dem Bau eines fünften Reaktorblocks im AKW Dukovany sogenannte Small Modular Reactor (SMR) bauen. Bei diesen beträgt die elektrischen Leistung maximal 300 Megawatt. Das nun stillzulegende deutsche AKW Emsland kommt auf eine Bruttoleistung von 1.400 Megawatt. Experten zweifeln, ob SMR tatsächlich Marktreife erlangen werden.

Auf diese Technologie setzt Polen nicht, sehr wohl aber ebenfalls auf Atomkraft. Sechs Meiler sollen ab dem Jahr 2026 errichtet werden, aus südkoreanischer und US-amerikanischer Produktion. In beiden Staaten bestellte Polen zuletzt Rüstungsgüter. Dass der AKW-Einstieg umgerechnet bis zu 40 Milliarden Euro kostet, ist für Regierung und Opposition in Warschau derzeit nebensächlich. Um Putin zu schwächen, zahlt Polen auch einen hohen Preis.