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Das Feilschen um den Wiederaufbau beginnt

Von Stefan Schocher

Politik

EU-Kandidatenstatus als Instrument: Die künftigen Beziehungen zwischen Ukraine und EU zeichnen sich ab.


Der Krieg in der Ukraine geht seinem zweiten Sommer entgegen. Und was die Aussichten anbelangt, so stehen da optimistische Szenarien, die eine Entscheidung bis Herbst in greifbarer Nähe sehen, solchen gegenüber, die einen noch jahrelangen Krieg prophezeien. Die Ukraine ist nicht kollabiert - ganz im Gegenteil. Aber auch das russische Regime ist nicht zerfallen - und mit jedem Tag, den Russlands Krieg gegen die Ukraine länger dauert, wachsen die Schäden. 411 Milliarden Dollar werde der Wiederaufbau des Landes kosten, so die Weltbank zuletzt. Mindestens.

Die Verwüstung ist jedenfalls enorm: Mehr als 1.500 Gesundheitseinrichtungen wurden bisher beschädigt oder zerstört, über weite Landstriche wurde jegliche Infrastruktur ausgelöscht, ganze Städte sind verschwunden. Es gibt Schäden an der Energieinfrastruktur, und ganze Region sind praktisch entvölkert sowie vermint.

Kein rascher EU-Beitritt

In der Situation, in der sich die Ukraine und Europa befinden, sind Abkommen, wie diese, symbolisch: Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zuletzt Polen besuchte, wurden zwei Memoranden unterzeichnet. Eines war dem Wiederaufbau gewidmet und eines der Produktion von 125mm-Panzer-Munition.

Wie aber die Milliarden Euro lenken, die in die Ukraine fließen und auch nach Ende dieses Krieges wohl weiter fließen werden? Die EU hat eine Geberkoordinierungsplattform eingerichtet. Die Ukraine hat Pläne entworfen. Aber dann tauchen Nachrichten wie die über einen Korruptionsskandal in der Nahrungsmittelbeschaffung für die ukrainische Armee auf.

Eine Reihe eher im linken politischen Lager angesiedelter Denkfabriken - darunter die Friedrich-Ebert-Stiftung, das Renner-Institut, Fondation Jean-Jaures, Kalevi Sorsa Foundation und Foundation Max van der Stoel - haben politische Handlungsanweisungen erarbeitet. Das nun in einem ersten Bericht publizierte Ergebnis wird die Ukraine eher nicht freuen. Denn knapp zusammengefasst heißt es da: kein rascher Beitritt zur EU. Vielmehr habe die Union mit der Verleihung des Kandidatenstatus "ein wirksames Instrument" erhalten "für den Wiederaufbau der Ukraine, deren Modernisierung und Transformation, in Übereinstimmung mit den besten europäischen Standards und innovativen Lösungen". Eine rasche Mitgliedschaft in der Union, ist dem Bericht zu entnehmen, wirke vielleicht attraktiv, allerdings sollte das Augenmerk auf die Qualität von Maßnahmen gelegt werden und vor allem auf klare Vorgaben seitens der EU. Es gelte, ambitioniert zu sein, nicht aber naiv.

Kampf der Korruption

Hervorgehoben wird da aber auch die "Resilienz", die die ukrainischen demokratischen Strukturen gezeigt hätten in diesem Jahr. Einher geht das mit Empfehlungen: Dezentralisierung, Entoligarchisierung sowie Kampf gegen Korruption, Stärkung der Zivilgesellschaft.

Dabei liest sich dieser Bericht ein wenig, als sei in diesen Bereichen in den vergangenen Jahren nichts passiert. Dem ist aber keinesfalls so. Seit der Revolution 2013/2014 gab es eine dezentralisierende Verwaltungsreform: Um Korruption auf Oblast-Ebene zu umgehen, wurden neue, kleinere und damit der demokratischen Kontrolle eher unterliegende administrative Einheiten geschaffen. Ebenso wurde eine Reform der Ermittlungsbehörden eingeleitet, es wurde gegen Oligarchen vorgegangen, und es gab vor allem massive Verbesserungen im Bereich der Alltagskorruption - all das inmitten eines Krieges sowie unter wechselnden Regierungen. Der treibende Motor dahinter: die Zivilgesellschaft, die seit der Revolution massiv Druck auf die Regierung ausübt.

Die Baustellen im Staatsapparat sind freilich dennoch enorm. Denn: Die Reform der Ermittlungsbehörden und der Staatsanwaltschaften ist nicht abgeschlossen, die Gebietsreform, die einen Zusammenschluss von Gemeinden zu "Gromadas" vorsieht, braucht Zeit, um auch zu funktionieren, die Gesundheitsreform steckt in den Kinderschuhen, während das Gesundheitssystem jetzt aber auf dem Kopf steht, und ebenso verhält es sich mit der dringend anstehenden Reform der Justiz.

Vor allem aber steht das Land wirtschaftlich vor einem schwarzen Loch: Im Jahr 2022 schrumpfte die Wirtschaft laut Weltbank um rund 30 Prozent. Und momentan scheint sich die Ukraine von Not-Hilfszahlung zu Not-Hilfszahlung zu hanteln.

Investitionen aus Deutschland

Dass die Annäherung an die EU mit dem Wiederaufbau Hand in Hand gehen soll, ist aber ohnehin mehr oder weniger Konsens in Brüssel. Zumindest trat das bei einem Parlamentarier-Treffen von Abgeordneten der Werchowna Rada, des Parlaments in Kiew, und der EU-Volksvertretung vor kurzem sehr deutlich hervor. Besprochen wurde bei der Zusammenkunft die Vorbereitung der EU-Beitrittsverhandlungen - einhergehend mit den Themenfeldern: Wirtschaft, Korruptionsbekämpfung, Rechtsstaatlichkeit und Haushaltskontrolle. Der Wiederaufbau erfordere ebenso eine transparente Führungsstruktur unter ukrainischer Verantwortung.

Nach den Korruptionsskandalen im Verteidigungsministerium hat jedoch auch die Ukraine selbst einen Vorschlag gemacht: externes Monitoring der Gebarung in ukrainischen Strukturen durch Vertreter der Geberländer.

Auch die deutsche Regierung hat nun ein Modell in Aussicht gestellt, wie der Wiederaufbau der Ukraine vonstattengehen könnte: Sie sichert elf Investitionsprojekte deutscher Unternehmen mit Investitionsgarantien ab. Das Volumen: 221 Millionen Euro. Es geht um die Bereiche Saatgut, Baustoffproduktion und Solarindustrie. Weitere Anträge auf Investitionsgarantien liegen vor.

Selenskyj kann sich außerdem eine Beschlagnahme russischer Vermögenswerte für den Wiederaufbau seines Landes vorstellen. "Die Ukraine wird niemals ein Land der Ruinen sein, egal wie sehr der Kreml davon träumt", befand der ukrainische Präsident vor kurzem.