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"Wir müssen auch Macht ausüben können"

Von Ronald Schönhuber

Politik
© picture desk / Clemens Fabry

Am 9. Mai begeht Europa seinen Feiertag. Doch wo soll die Reise hingehen? Im Interview spricht EU-Kommissionsvertreter Martin Selmayr über die Vision von Europa als drittem geopolitischen Pol und die wirtschaftlichen Herausforderungen.


"Wiener Zeitung":Am 9. Mai ist Europatag. Hat Europa derzeit eigentlich etwas zu feiern?

Martin Selmayr: Es gibt durchaus etwas zu feiern, denn das Konzept Europa ist aktueller denn je. Nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der über 75 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, schlug der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 vor, die Kohle- und Stahlindustrie mit Deutschland zusammenzulegen, um Krieg für alle Zeit zu vermeiden. Aus Erzfeinden sind so Partner und Freunde geworden. Mittlerweile haben sich 27 Staaten diesem Konzept angeschlossen und zwischen ihnen hat es seit mehr als 70 Jahren keinen Krieg mehr gegeben. Gleichzeitig sehen wir, dass es anderswo nicht so ist. Für Europa ist der im Inneren durch Zusammenarbeit erreichte Frieden nicht nur ein Erfolg, sondern auch ein Auftrag, auch in anderen Teilen der Welt auf Frieden hinzuwirken - und daran arbeitet die Europäische Union täglich, zur Zeit vor allem im Hinblick auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Lassen Sie uns gleich darüber reden, wohin die Reise gehen soll. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat nach seinem China-Besuch für große Aufregung gesorgt, als er für ein zurückhaltenderes Auftreten Europas in der Taiwan-Frage plädiert hat - freilich verbunden mit der Forderung, Europa müsse ein dritter Pol neben China und den USA werden. Hat Macron da das Richtige am falschen Ort und zur falschen Zeit gesagt?

Was Macron zum dritten Pol gesagt hat, das haben viele vor ihm gesagt, seien es nun Franzosen, Deutsche oder Österreicher. Ich meine, wir regen uns in Europa etwas zu sehr darüber auf, wenn es gelegentlich verschiedene Formulierungen gibt. Die EU ist Gott sei Dank keine Diktatur, wo einer entscheidet, sondern wir streiten immer wieder, viele mit guten Argumenten, über den richtigen Weg. Es gibt auch in den USA Streit über die US-Außenpolitik, und es gibt natürlich noch mehr Streit über die europäische Außenpolitik, weil wir eben kein Zentralstaat sind, sondern sich in der EU 27 Demokratien einigen müssen. Das kann man auch als Stärke ansehen. Interessanterweise hört man ja nie etwas über einen Streit über die chinesische Außenpolitik. Das Wichtige ist, dass wir in Europa trotz allem am Ende immer zusammenkommen. Und ja, Europa ist bereits ein dritter Pol mit seinen eigenen Interessen. Wir sind der größte Binnenmarkt der Welt und etwa um 20 Prozentpunkte stärker mit dem Rest der Welt vernetzt als die USA und sind natürlich deutlich offener als China. Was Macron schon vor vielen Jahren zu Recht als strategische Autonomie Europas eingefordert hat, heißt deshalb nicht, dass wir alles in Europa produzieren können und wollen. Aber wir sollten etwa beim Gas nicht von einem Lieferanten abhängig sein. Gleiches gilt auch für Halbleiter, wo wir die Lieferketten diversifizieren müssen, so wie das jeder vernünftige Unternehmer macht, damit wir im Krisenfall nicht erpressbar sind. Zu einem dritten eigenständigen Pol zu werden, der in der Welt enger mit denjenigen zusammenarbeitet, die unsere Werte teilen, ist eine Vision, die alle Mitgliedstaaten teilen.

Kann das ohne eine politische Vertiefung und Integration der EU funktionieren? Wir sehen jetzt schon, wie schwierig und oft auch langsam die gemeinsamen Entscheidungsprozesse in Europa ablaufen.

Der Gesetzgebungsprozess läuft in Europa bereits heute regelmäßig deutlich schneller ab als der in den USA, wo der Kongress auf Grund der Polarisierung der beiden Parteien fast handlungsunfähig ist. In Europa verständigen sich der Ministerrat und das Parlament jede Woche mit breiten Mehrheiten auf weitreichende Gesetze im Digitalbereich oder zur Klimapolitik. In einigen Bereichen muss Europa - und das gehört zur Weltpolitikfähigkeit dazu - aber lernen, die Sprache der Macht nicht nur zu sprechen, sondern auch die Instrumente zu schaffen, um diese Macht tatsächlich auszuüben. Das betrifft vor allem den Bereich des Militärischen, wo Europa zwar insgesamt viel Geld ausgibt, aber jeder dies gewissermaßen separat in seiner kleinen nationalen Ecke macht. Seit ein paar Jahren sind wir zwar dabei, das militärische Beschaffungswesen effizienter zu gestalten, indem wir zum Beispiel gemeinsame Ausschreibungen mehrerer Staaten fördern, damit nicht jeder seinen eigenen Panzer baut. Aber angesichts des Krieges in der Ukraine müssen wir zweifellos deutlich mehr gemeinsam tun. Als die Ukraine von Russland überfallen wurde, hatten einige EU-Staaten gerade einmal so viel Munition, um sich zwei Tage zu verteidigen. Wir Europäer müssen unsere gemeinsame Sicherheit, auch die militärische, wieder zur Priorität machen.

Hat sich mit dem Ukraine-Krieg das Machtzentrum in Europa ein Stück weit verschoben? Nach dem russischen Überfall haben vor allem die Osteuropäer und die Balten das Tempo und den Ton vorgegeben, die deutsch-französische Achse wirkte dagegen zögerlich und wenig entscheidungsstark.

Die Idee eines Machtzentrums in Europa ist Gott sei Dank spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg überwunden, sie führte katastrophal in die Irre. Wir sind heute in Vielfalt geeint und haben deshalb unterschiedliche Schwerpunkte und Gravitationszentren in Europa, je nachdem, um welches Thema es geht. Wirtschafts- und Finanzfragen werden naturgemäß stärker von jenen 20 Staaten geprägt sein, die den Euro haben. Bei Fragen, die mit dem Mittelmeer zu tun haben, geben oft die Staaten des Südens den Ton an. Und das, was derzeit in der Ukraine passiert, betrifft die Staaten Osteuropas am unmittelbarsten, aber eben nicht nur sie. Wenn sie beispielsweise die Debatte in Spanien oder Portugal verfolgen, verhalten sich diese Länder teils so, als würden sie eine Grenze zu Russland haben. Das zeigt, wie wir jetzt als Schicksals- und Wertegemeinschaft in Europa zusammenwachsen. Übrigens: Genauso wie die baltischen Staaten, die derzeit tatsächlich vieles im Bereich der Sicherheitspolitik vorantreiben, könnte natürlich auch Österreich bei vielen Themen so ein Antreiber sein, wenn es in seiner Europapolitik etwas öfter von der Defensive auf die Offensive schalten würde.

Sie waren in ihrer Zeit in Brüssel einer der zentralen Köpfe hinter der China-Strategie der EU, in der die Volksrepublik erstmals als systemischer Rivale bezeichnet wurde. Wie sehr erleben wir gerade das Ende unserer China-Illusionen? Wandel durch Handel stößt ja ganz offensichtlich an seine Grenzen.

Natürlich stößt die an sich richtige Idee Wandel durch Handel an Grenzen, wenn auf der anderen Seite keine rational handelnde Demokratie steht. 2019 war sicherlich ein Moment des Erwachens, als sich die EU-Mitgliedstaaten - einige durchaus zögerlich - dazu bekannt haben, China auch als Rivalen zu bezeichnen. Heute ist das fast Gemeingut und es stellt sich die Frage, ob China nicht bereits ganz überwiegend ein Systemrivale ist. Man muss aber immer nach Bereichen suchen, in denen man dennoch zusammenarbeiten kann. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat da Ende März eine sehr treffende Formulierung gefunden, als sie meinte, es sei nicht das Ziel, sich vollständig von China zu entkoppeln, sondern vielmehr die Risiken aus dem Verhältnis zu China herauszunehmen. Wir sollten also mit China weiterhin in der Klimapolitik und in Sicherheitsfragen zusammenarbeiten, aber dürfen uns zugleich bei Seltenen Erden nicht zu 80 oder 90 Prozent vom Systemrivalen abhängig machen. Erfreulicherweise haben sich wichtige Stimmen in den USA, wie etwa Finanzministerin Janet Yellen, mittlerweile dieser Sichtweise der Kommissionspräsidentin angeschlossen.

Inwieweit kann man heute sinnvollerweise eine wertegeleitete Außenpolitik machen? Gerade die letzten Jahre haben gezeigt, dass wir uns auch mit autoritären Staaten arrangieren müssen, und wenn wir es nicht tun, machen es die Russen oder die Chinesen.

Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Eine Außenpolitik, die nur aus Werten besteht, ist keine Außenpolitik, aber eine Außenpolitik ohne Werte ist zynisch. Natürlich ist es unser Ziel, die regelbasierte internationale Ordnung zu erhalten, und dazu gehört unbedingt der Status quo in der Straße von Taiwan, der nicht einseitig oder gar gewaltsam verändert werden darf. Und selbstverständlich muss es unsere Politik sein, dass China auch gegenüber den Uiguren die Menschenrechte achtet. All das muss immer wieder von europäischen Politikern vorgetragen werden. Gleichzeitig müssen wir aber auch dafür sorgen, dass mit denjenigen, die anderer Auffassung sind, nicht der Gesprächsfaden abreißt. Wer nicht mehr das Gespräch führt, der wird Konflikte nicht beenden können. Deshalb sprechen die europäischen Spitzenpolitiker gerade so intensiv mit China.

Wie sehr kann und muss sich Europa auf die USA verlassen?

Gott sei Dank kann sich Europa auch in schwierigen Zeiten auf die USA verlassen. Ohne den Marshallplan und die Unterstützung der USA beim Aufbau unserer Demokratien gäbe es die EU in ihrer heutigen Form nicht. Und ohne den militärischen Schutz der Nato hätte sich die ursprüngliche Wirtschaftsgemeinschaft nicht politisch entwickeln können. Die USA sind also ein zentraler Partner für uns Europäer, auch wenn wir natürlich mitunter auch Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Interessen haben. Aber selbst in der Ära von Donald Trump, die mit Sicherheit die schwierigste Zeit in der transatlantischen Beziehung war, gab es Gesprächskanäle und intensive Zusammenarbeit. Man darf nicht alles, was über den Lautsprecher verkündet wurde, als Beleg dafür nehmen, wie die Arbeit im Einzelfall war.

Politischer Einfluss muss auch immer ökonomisch unterfüttert sein. In vielen Bereichen wie etwa im Tech-Sektor hinkt Europa Google und Amazon hinterher, selbst im Bereich der grünen Technologien drohen wir nun durch den amerikanischen Inflation Reduction Act massiv ins Hintertreffen zu geraten. Wie kann Europa das kompensieren und aufholen?

Zunächst einmal müssen wir ein ganzes Stück mehr Selbstbewusstsein entwickeln, da können wir viel von den Amerikanern lernen. Wir haben Schwächen, aber wir haben auch viele Stärken. Wir haben etwa zur Zeit einen der besten Arbeitsmärkte der Geschichte in Europa. Und wir sind im Bereich der technologischen Entwicklung und der Forschung extrem stark, bei der Quantenphysik und der Elektromobilität sogar deutlich stärker als die USA. Noch nicht so gut sind wir dabei, unsere Erfindungen als erfolgreiche Produkte auf den Markt zu bringen. Dazu müssen wir vor allem unsere Kapital- und Dienstleistungsmärkte stärker integrieren. Das wichtigste Instrument, um zu den USA und anderen Wettbewerbern aufzuschließen, ist unser Binnenmarkt, wenn er denn wirklich ein einheitlicher Markt ist. Dann müsste ein Technologieanbieter nämlich nicht 27 verschiedene Versionen seines Produktes entwickeln. Wir sind dabei zum Beispiel bei der Datenökonomie schon weit vorangekommen, in anderen Bereichen, zum Beispiel beim Urheberrecht, müssen wir noch einige nationale Widerstände überwinden.

Lassen Sie uns zum Schluss noch über ein zentrales Thema reden, das in Brüssel infolge des Kriegs wohl ein Stück weit auf der Agenda nach unten gerutscht ist. Die Ankünfte von Migranten sind nach der Corona-Krise auf dem höchsten Stand seit 2015 angelangt. Seit Jahren steckt die EU aber fest und findet kein Rezept, sowohl was die Zahl der Ankünfte als auch die Verteilung der Asylwerber betrifft. Wird das auf ewig Europas ungelöstes Problem bleiben?

Migration wird für einen so reichen, sicheren und attraktiven Kontinent wie Europa immer eine große Herausforderung sein. Das teilen wir mit den USA, wo an einer viel kürzeren Grenze drei Mal so viele Flüchtlinge ankommen als in Europa. Es ist aber keineswegs so - wie das hierzulande manchmal gerne dargestellt wird -, dass auf EU-Ebene bei diesem Thema nichts passiert. Jede Woche einigen sich Rat und Parlament auf neue Maßnahmen beim Migrationsmanagement. Anders als 2015 stehen heute an den EU-Außengrenzen hunderttausend europäische Grenzschützer, jeder fünfte bereits in europäischer Uniform. Jeder, der die europäischen Außengrenzen überschreitet, sei es als Tourist oder um einen Asylantrag zu stellen, wird heute elektronisch erfasst. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns in den kommenden Monaten auch auf die übrigen Elemente des von der Kommission 2020 vorgeschlagenen Asyl- und Migrationspakets einigen können. Besseres Migrationsmanagement mit vielen kleinen Schritten ist ein mühsamer, aber auch ein realistischer Weg. Man kann Migration nicht stoppen, da Menschen immer vor Terror, Armut und Krieg fliehen werden. Man kann sie aber gemeinsam in geordnete Bahnen lenken. Dazu gehört übrigens auch eine Erweiterung des Schengen-Raums. Je mehr EU-Mitgliedstaaten in das Schengen-System integriert werden, um so besser können wir unsere Außengrenzen gemeinsam managen. Als Kroatien jetzt am 1. Januar Schengen-Mitglied wurde, konnten 700 Grenzbeamte von der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien abgezogen und an den Außengrenzen eingesetzt werden. Deshalb wäre eine Schengen-Mitgliedschaft von Rumänien und Bulgarien ein großer Gewinn für die Sicherheit aller Europäerinnen und Europäer. 

Zur Person~Martin Selmayr, Jahrgang 1970, studierte Jus und arbeitete dann bei der Europäischen Zentralbank und der Bertelsmann Stiftung in Brüssel. Ab 2004 war er Beamter der EU-Kommission, von 2014 bis 2018 Kabinettschef von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und schließlich Generalsekretär. Seit Ende 2019 leitet er die EU-Vertretung in Österreich.