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"Die Politik hat nicht an Berlin geglaubt"

Von Alexander Dworzak aus Berlin

Politik
Substandard und renitente Bewohner. Diese Kombination ist selten geworden am Prenzlauer Berg.
© Alexander Dworzak

In der deutschen Hauptstadt fehlt es an abertausenden leistbaren Wohnungen. Schnelle Besserung ist nicht in Sicht.


Der Kontrast könnte kaum größer sein: Renovierte Altbauten mit ausgebauten Dachgeschoßen säumen die Berliner Kastanienallee. Modegeschäfte und Cafés wechseln sich im Szeneviertel ab, Mütter und Väter rollen mit Lastenrädern über die Straße oder die breiten Gehsteige. Im Haus Nummer 12 mit den drei Hofgebäuden sucht man derartige und teure Vehikel vergeblich. Toiletten befinden sich auf den Gängen. In den Küchen sind auch die Bäder. Im Herbst bestellen die Mieter kollektiv Kohle, mit der die Öfen beheizt werden. Im Hof lehnt ein überdimensionaler Pinsel mit der Aufschrift: "Ein Pinselstrich durch die Gesellschaft".

Substandard und renitente Bewohner erinnern an Ost-Berlin vor dem Fall der Mauer 1989: Arbeiter, Künstler und Intellektuelle machten aus dem Prenzlauer Berg ein besonderes Viertel, die Kastanienallee 12 als Teil des historischen Hirschhofes gehörte zur Untergrundkultur. Nach der Wende entdeckten Investoren rasch die Qualitäten der Gegend. Viele Altmieter konnten sich nach Sanierung der Gebäude den Zins nicht mehr leisten, Mietwohnungen wurden in Eigentumswohnungen umfunktioniert. Der Prenzlauer Berg wurde zum Sinnbild für Aufwertung und Verdrängung.

Von unter 8 auf 16 Euro Miete pro Quadratmeter

Dass die rund 100 Bewohner der Kastanienallee 12 bleiben können und der Komplex saniert wird, verdanken sie dem Vorkaufsrecht der Stadt. Diese kann zum sogenannten Milieuschutz ansässiger Bürger ausrücken und ein zum Verkauf stehendes Gebäude zum Marktwert erwerben. Berlin verkaufte an die Mietergenossenschaft Selbstbau und eine Schweizer Stiftung, die nun die Sanierung mit den Bewohnern anpacken.

So viel Glück haben nur ganz wenige Mieter in Berlin. Vom Vorkaufsrecht machte die Stadt in den vergangenen Jahren geschätzt 15 Mal Gebrauch. Genaue Zahlen fehlen, keine Ausnahme in Berlin: "Es gibt keine Statistiken, wie viele Menschen entmietet wurden", sagt Klaus Mindrup. "Die Stadt kontrolliert auch nicht, ob die Mietpreisbremse eingehalten wird, jeder Mieter muss selbst dafür sorgen", kritisiert der ehemalige Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Berlin-Pankow, der auf Wohnungspolitik spezialisiert ist.

Seit 2015 gilt die Mietpreisbremse. Bei Weitervermietungen darf der Zins nur bis zu zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Laut Wohnbauforscher Gerald Kössl sind für neu bezogene Wohnungen durchgehend 16 Euro netto pro Quadratmeter zu entrichten - ohne Betriebskosten, Energie und Heizen. Im Jahr 2007 lag die Miete unter 8 Euro/m². Das Resultat in der Mieterstadt Berlin, wo acht von zehn Wohnungen Mietwohnungen sind: Die Hälfte aller Haushalte gilt im Fachjargon als "wohnkostenüberbelastet"; das heißt, mehr als 40 Prozent des verfügbaren Einkommens entfallen auf Wohnkosten.

"Ein Pinselstrich durch die Gesellschaft" als Protest gegen die Verdrängung alteingesessener Mieter.
© Alexander Dworzak

Denn Angebot und Nachfrage klaffen in der deutschen Hauptstadt weit auseinander. In den vergangenen zehn Jahren zog eine halbe Million zu, mehr als 3,8 Millionen Menschen haben mittlerweile ihren Hauptwohnsitz in der Metropole. Die Bautätigkeit hält mit dem Andrang nicht annähernd Schritt. 2021 wurden knapp über 14.000 Wohnungen fertiggestellt. Wien kommt auf mehr Wohnungen, 17.400 Einheiten, bei deutlich weniger Einwohnern, nämlich 1,9 Millionen.

Erschwerend wirkt, dass Berlin auf wesentlich weniger städtische Wohnungen oder Objekte von Genossenschaften zurückgreifen kann als Wien. Der Ländervergleich: "Deutschland liegt bei leistbaren Wohnungen deutlich hinter Österreich, und das bei einer höheren Wohnbauförderung gemessen am Bruttoinlandsprodukt", stellt Michael Gehbauer fest, Geschäftsführer der Wohnbauvereinigung der Privatangestellten und Obmann des Vereins für Wohnbauförderung (VWBF). Gehbauer bemängelt, dass die deutschen Mittel primär der Subjektförderung gelten, also Personen, die staatliche Mietzuschüsse erhalten. In Österreich liege der Fokus auf Objektförderung, somit der Errichtung von Gebäuden. Einen weiteren Nachteil Deutschlands sieht Gehbauer in der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit Ende der 1980er. Mehrere Privatisierungen folgten, und alleine von 2002 bis 2019 halbierte sich die Zahl preisgebundener Sozialmietwohnungen.

Den Weg der Privatisierung ging auch Berlin bei seinen kommunalen Wohnungen, 200.000 Einheiten wurden veräußert. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet eine Koalition aus SPD und Linkspartei hat die Privatisierung ab Anfang der Nullerjahre am stärksten vorangetrieben. Allerdings musste die damalige Koalition den Milliardenschaden infolge des Skandals bei der landeseigenen Bankgesellschaft Berlin ausbaden. "Damals erklärte die Regierung, dass die Stadt Schulden abbauen muss", erinnert sich Klaus Mindrup. "Heute ist Berlin noch höher verschuldet."

Stadt veräußerte ihre Baulandreserven

Den Berlin-Boom, der vor rund zehn Jahren einsetzte, hat um die Jahrtausendwende niemand erwartet. In einem genossenschaftlichen Gründerzeit-Ensemble in der Schönhauser Allee, ebenfalls am Prenzlauer Berg, standen damals rund ein Viertel der Wohnungen leer. "Die Politiker haben nicht an ihre eigene Stadt geglaubt", sagt der SPDler Mindrup, der auch seine Genossen nicht schont.

Und so laboriert Berlin bis heute an den Fehlern aus der Vergangenheit. Ab 2006 begann der Aufwärtstrend. Damals wurde der hohe Leerstand an Wohnungen abgebaut, fehlende Neubauten fielen nicht ins Gewicht. 2012 war diese Phase beendet, zugleich setzte der Berlin-Boom ein. Die Stadt aber verfügte über keine strategische Baulandreserve: "Im Gegenteil, Berlins Liegenschaftsfonds verkaufte Grundstücke", berichtet Klaus Mindrup den Teilnehmern einer Studienreise des VWBF. Mit der Nullzinsphase wurde der Immobilienmarkt für Investoren noch interessanter. Wer rechtzeitig eingestiegen ist, hat enorme Profite eingestreift. In den Zehnerjahren verfünffachten sich Berlins Preise für Bauland.

Auf dem wertvollen Grundstück in der Kastanienallee 12 werden aber keine Abrissbagger auffahren. Fast alle Mieter stimmen angesichts der Sanierung zu, dass der Zins von 2,50 auf 4 Euro pro Quadratmeter erhöht wird, erzählt eine Bewohnerin. Über diesen Betrag können die Mieter in einem Nachbarhaus nur schmunzeln, das Finanzinvestor Nicolas Berggruen gehört. Über einen großen Gemeinschaftsgarten verfügen aber nur die Personen im Substandard-Quartier. Die Kinder von nebenan sind daher herzlich zum Spielen eingeladen. Eine untypische Allianz am nur noch an ganz wenigen Ecken untypischen Prenzlauer Berg.

Redaktioneller Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung des Vereins für Wohnbauförderung.