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"Tolstoi ist gefährlich"

Von Stefan Schocher

Politik

Der Philosoph Vakhtang Kebuladze fordert eine "postkoloniale Dekonstruktion" Russlands auf ukrainischem Boden.


Vakhtang Kebuladze ist Professor für Philosophie an der Taras Shevchenko-Universität in Kiew. Er hat viel zum Thema Freiheit geforscht - ein großes Thema für die Ukraine in Anbetracht des russischen Angriffskrieges und vor allem angesichts einer Reihe neuer Gesetze, die eine "Entrussifizierung" und "Entkolonialisierung" des Landes vorsehen. Russische Kultur, russische Statuen und Straßennamen seien Ausdruck eines althergebrachten, imperialen Machtanspruches, ist Kebuladze überzeugt. Die "Wiener Zeitung" hat mit ihm darüber gesprochen.

"Wiener Zeitung":Sie haben einen georgischen Namen, sind Ukrainer. Was macht die ukrainische Identität aus? Was ist der Kern?Vakhtang Kebuladze: Mein Vater ist Georgier. Er wurde in Tiflis geboren. Meine Mutter ist Griechin aus der Ukraine. Ihre Eltern wurden in der Region Donezk geboren. Ich bin Ukrainer. Es bedeutet für mich nicht die ethnische Abstammung, sondern die politische Bürgerschaft, die mir die Möglichkeit gibt, ein freier und würdiger Mensch zu sein, da die Freiheit und die menschliche Würde den Kern der ukrainischen politischen Identität ausmachen.

Präsident Selenskyj hat zuletzt zwei Gesetze unterzeichnet: Eines, das eine Entrussifizierung des öffentlichen Raumes vorsieht - also die Umbenennungen öffentlicher Orte oder Plätze, und eines, das die Kenntnis der ukrainischen Sprache und Geschichte zur Voraussetzung für den Erhalt der Staatsbürgerschaft macht. Gewissermaßen läuft das ja seit 2015, als die Abschaffung kommunistischer Reste beschlossen wurden. Was ist neu an diesen jetzigen Gesetzen?

Es ging damals um die Entfernung kommunistischer Symbole und Bezeichnungen aus unserer Topografie: also um Straßen, Plätze, Städte. Jetzt geht es um Entrussifizierung. Meines Erachtens ist das sehr wichtig. Vor allem während des Krieges. Ein Beispiel: Im Zentrum von Kiew gab es einen Platz, benannt nach Lew Tolstoi. Er hat nie in der Ukraine gewohnt und nichts über Kiew geschrieben. Wieso brauchen wir also eine Straße, die nach Tolstoi benannt ist, und einen entsprechenden Platz? Es gab Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts - also zur selben Zeit - Scholem Alejchem. Er hat auf Jiddisch und viel über Kiew geschrieben. Er ist wichtig für die Geschichte der Ukraine und für die Geschichte Kiews. Es gibt nur eine kleine Straße, die nach ihm benannt ist. Oder Walerjan Pidmohylnyj, der einen Roman auf Ukrainisch über Kiew geschrieben hat: "Die Stadt". Nach ihm ist eine Sackgasse in einem Vorort benannt. Wieso brauchen wir also eine Tolstoi-Straße? Zweitens: Tolstoi ist gefährlich.

Wieso gefährlich?

Er hat ein sehr positives Russland-Bild ersonnen, das nie existiert hat und nicht existiert. Und Russlands Propaganda benutzt genau diese Narrative heute, um die russische Invasion zu legitimieren. Es geht hier nicht um Literatur. Es geht um die Markierung des russischen Lebensraums. Und genau darum geht es auch bei der Entrussifizierung. Da geht es nicht um die Romane oder die Erzählungen. Wir sollten diese Literatur lesen und lernen. Wir müssen sie unbedingt lernen. Aber sie sollte kein kulturelles Subjekt in der Ukraine sein. Wir müssen unseren Feind untersuchen. Nicht nur die Politik und die Wirtschaft, sondern eben auch die Literatur. Weil dieser russische Faschismus tief verwurzelt ist. Und eben auch in der Literatur. Wir brauchen daher eine kritische postkoloniale Dekonstruktion all dessen. Und keine Straßen und Plätze, die die russische Anwesenheit hier markieren.

Aber da gibt es viel Graubereich: Mikhail Bulgakov zum Beispiel. Der hat in Kiew gelebt. Wo zieht man in einer offenen Gesellschaft die Grenze?

Bulgakov ist ein russischer Protofaschist. Er ist xenophob und er hat Kiew gehasst. Er hat Georgien gehasst. Bulgakov ist ein Zeichen des russischen Imperialismus. Wir können da zwei Bücher vergleichen: Bulgakovs die "Weiße Garde". Das ist ein einziges prorussisches, antiukrainisches Narrativ. Zur selben Zeit, als die "Weiße Garde" geschrieben wurde, hat der ukrainisch-französische Tänzer und Choreograf Serhij Lyfar seine Tagebücher geschrieben. Er hat diese Tagebücher aus einer ganz andern Perspektive geschrieben. Bulgakov hat die Rote Armee nicht eindeutig negativ betrachtet, weil es die russische Armee war. Aber deren Einmarsch in Kiew war eine Katastrophe. Das war Butscha (sinnbildlich für russische Verbrechen in der Ukraine, Anm.). Lyfar hat das negativ wahrgenommen.

Eine gemeinsame Geschichte lässt sich aber nicht leugnen. Besteht da die Chance, dass sich diese Geschichte zum Positiven wendet? Und wenn: Wie kann das gehen?

Wir haben auch eine gemeinsame Geschichte mit dem nazistischen Deutschland. Wie soll sich diese Geschichte zum Positiven wenden? Unsere Geschichte mit Russland ist eine Geschichte der Gewalt und des Krieges. Der heutige Krieg hat nicht im vorigen Jahr begonnen und auch nicht 2014. Dieser Krieg ist 300 Jahre alt. Russland hat immer versucht, die Ukraine zu vernichten. Wir jedenfalls haben die objektiven ukrainischen Texte, die wissenschaftliche Aufarbeitung. Die russischen Narrative sind in keiner Weise wissenschaftlich, sondern Teil eines psychologischen Informationskrieges. Wir brauchen unsere eigene Geschichte. Unsere eigene Geschichtsschreibung.

Aber eine pragmatische Nachbarschaft?

Russland ist ein Imperium und es ist unmöglich, mit so einem Imperium nachbarschaftlich zusammenzuleben. Wir brauchen die Dekonstruktion Russlands. Nicht die Vernichtung der Menschen, aber des Systems. Erst danach können wir versuchen, normal zusammenzuleben. Ich war in Isjum nach der Befreiung von Russland. Da war ein Graffiti: ein Porträt von John Lennon mit einem Zitat aus seinem Lied "Imagine". Und ich habe mir gedacht, dass wir beginnen sollten, uns die Welt ohne Russland vorzustellen - nicht ohne Russen, sondern ohne Russland als Imperium -, um in Frieden leben zu können.

Kritiker sagen, in der Ukraine werde Geschichte umgeschrieben.

Wir sollten unsere eigene Geschichte schreiben, da Russland unsere Geschichte ständig umgeschrieben hat. Geschichte ist immer eine Interpretation und es gibt keine reinen Tatsachen. Es kommt immer auf die Perspektive an. Aber es gibt Dokumente, es gibt Texte, es gibt Artefakte. Wir brauchen keine neue Geschichte, wir brauchen unsere eigene Geschichte. Das geht bis zu Bezeichnungen für historischer Ereignisse: Wir sagen Holodomor (Hungersnot in der Ukraine aufgrund sowjetischer Kollektivierung mit Millionen Toten), Russland sagt Golodni Godi, also hungrige Jahre. Oder die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts: In der russischen Geschichte werden die Ereignisse in der Ukraine Bürgerkrieg genannt. Das war aber ein Krieg Russlands gegen die Ukraine. Es geht nicht um Umschreibung, es geht um Wahrheit.

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