Wladimir Putin unterzeichnet viele Dekrete. Doch nur wenige bergen für Bürger in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine derartige Gefahren: Ende April unterschrieb der Machthaber im Kreml ein Dekret, das die Aufenthaltsregelungen für Ausländer in den von Russland okkupierten Teilen der Bezirke Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja ändert. Damit öffnet Putin die Tür für Deportationen von Ukrainern ab Juli kommenden Jahres. Bis dahin müssen ukrainische Staatsbürger nämlich den russischen Pass annehmen, um nicht in ihrer eigentlichen Heimat als Ausländer zu gelten.

Auf dem Papier schützt der Artikel 11 des Putin-Dekrets selbst die Ukrainer, die nicht nur die russische Staatsbürgerschaft ablehnten, sondern sogar keinen Aufenthaltstitel beantragt haben, vor Ausweisungen und Deportationen. Diese bedeuten im Endeffekt aber allesamt, dass der Bürger das Gebiet verlassen muss, das Russland für sich beansprucht. Denn deportiert werden können Ukrainer, die "eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Russischen Föderation" darstellen oder "in die öffentliche Ordnung und Sicherheit" eingreifen.

Genfer Konvention verbietet Deportation

Definitionen dieser Begriffe sowie die Praxis deren Anwendung sind in Russland derart weit ausgelegt, dass so gut wie alles darunter fallen kann. Zur "Gefahr für nationale Sicherheit" gehören etwa "andere Wege der Unterstützung extremistischer und terroristischer Tätigkeit". In Russland steht sogar die Muttergesellschaft von Facebook und Instagram auf der Liste derartiger Organisationen. Und als "Gefahr für öffentliche Ordnung" gilt bereits die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen.

Selbst Ukrainer, die den russischen Pass bis Juli 2024 erhalten, sind vor Ausweisungen und Deportationen nicht vollständig geschützt. Jüngste Gesetzesänderungen in Russland sehen die Möglichkeit des Passentzuges im Falle der erworbenen, also nicht durch Geburtsrecht erhaltenen Staatsbürgerschaft vor, und zwar bei "Aktionen, die die nationale Sicherheit gefährden".

Artikel 49 der Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung während des Krieges verbietet jegliche Deportationen der Lokalbevölkerung aus dem besetzten Gebiet. Russland könnte daher vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag der Kriegsverbrechen bezichtigt werden, wenn ein an einer Demonstration teilnehmender Zivilist deportiert wird.

Wie viele der aktuell besetzten Gebiete Russland im Juli 2024 noch kontrollieren wird, hängt von der Frühjahrsoffensive der ukrainischen Truppen ab. Russland will daher so schnell wie möglich dafür sorgen, dass es aus Moskauer Sicht keine Ukrainer mehr in besetzten Gebieten mehr gibt. Bereits ein Mitte März unterzeichnetes Gesetz sieht vor, dass die ukrainische Staatsbürgerschaft am Tag der Beantragung des russischen Passes erlischt. Seit dem Antrag ist es verboten, den ukrainischen Pass zu benutzen. Tut man es dennoch, darf man erst wieder in zehn Jahren die russische Staatsbürgerschaft beantragen.

Wer keinen russischen Pass besitzt, darf bereits jetzt keine Pension und keine anderen Sozialleistungen erhalten. Viele Unternehmen verweigern auch die Anstellung.

Der Druck ist derart hoch, da insbesondere in den besetzten Gebieten Chersons und Saporischschjas anscheinend sehr wenige Personen russische Pässe annehmen - sei es aus Patriotismus oder aus der praktischen Überlegung, dass die Ukraine diese Gegenden ähnlich wie die Stadt Cherson im in absehbarer Zeit zurückerobern könnte. Die offiziellen russischen Zahlen besagen hingegen, dass bereits rund 165.000 Menschen im Bezirk Saporischschja und rund 90.000 Menschen im Bezirk Cherson die russische Staatsbürgerschaft angenommen haben.

In Donezk und Luhansk ist die Lage anders, weil russische Pässe an die Bevölkerung der sogenannten Volksrepubliken bereits seit 2019 ausgegeben wurden. Von Teilen der dort gebliebenen Lokalbevölkerung wurden diese als Chance gesehen, ein seriöses Dokument in der Tasche zu haben, im Gegensatz zu den wertlosen Pässen der selbsternannten Volksrepubliken.

Automatische Einbürgerung auf der Krim

Bei der 2014 annektierten Krim wählte Russland den schnellstmöglichen Weg: Alle Stand 18. März 2014 auf der Krim gemeldeten Personen wurden automatisch zu russischen Staatsbürgern erklärt, sofern sie nicht innerhalb eines Monats schriftlich darauf verzichteten. Wer diesen Schritt wagte, erhielt eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Die Behörden der Besatzer interessierte lange auch nicht, wer welchen Pass besitzt. Das liegt auch daran, dass die Loyalität der Lokalbevölkerung gegenüber den russischen Besatzern auf der Krim unbestritten höher war als in später besetzten Teilen der Ukraine. Politisch aktive Menschen wurden auf der Krim allerdings noch stärker verfolgt als in den allermeisten russischen Regionen.

In der ukrainischen Regierung gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Bevölkerung in den besetzten Gebieten russische Pässe in Extremfällen annehmen sollte oder nicht. Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez rät zur Annahme, wenn es um das Überleben geht. Die Ukraine betrachte die Ausgabe der Pässe als Kriegsverbrechen, nicht deren Annahme. Iryna Wereschtschuk, Vizepremierministerin für Reintegration der besetzten Gebiete, hat den Ukrainern dagegen empfohlen, die Pässe nicht anzunehmen und am besten wegzufahren. Auch sie habe aber Verständnis, wenn die Menschen das okkupierte Territorium nicht verlassen können.