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Massenevakuierungen entlang des Dnipro

Politik

Die Zerstörung des Kachowka-Damms führt zu massiven Überschwemmungen in Cherson. Während die kriegsgeplagte Bevölkerung vor einer neuen Katastrophe steht, könnte die russische Armee durchaus Kapital aus der Flutwelle schlagen.


Mit welcher Zerstörungskraft sich die Flutwelle ihren Weg flussabwärts bahnt, wurde bereits nach wenigen Stunden offensichtlich. Im besetzten Nowa Kachowka, vor dem russischen Überfall auf die Ukraine eine friedliche Kleinstadt mit knapp 40.000 Einwohnern, stand das strahlend weiße Gemeindezentrum bereits am Dienstagvormittag knapp einen Meter unter Wasser. Auf dem angrenzenden Platz trieben große abgebrochene Äste in der schlammbraunen Brühe. "Die Stadt ist überflutet", sagte der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew im russischen Staatsfernsehen. Im Laufe des Vormittags seien bereits 300 Häuser evakuiert worden.

Das am südlichen Dnipro-Ufer gelegene Nowa Kachowka war aufgrund der unmittelbaren Nähe zum in den frühen Morgenstunden zerstörten Kachowka-Staudamms die erste Stadt gewesen, die von großflächigen Überflutungen betroffen war. Im Laufe des Dienstags wurden allerdings für zahlreiche weitere Ortschaften entlang des Flusses Evakuierungsbefehle ausgegeben. So ging die Ukraine, die das nördliche Ufer des Dnipro kontrolliert, bereits zu Mittag von bis zu 80 von Überschwemmungen betroffenen Dörfern und Städten aus. "Unsere Schule und das Stadion wurden überflutet. Als wir evakuiert wurden, konnte auch der Bus wegen des Wassers nicht weiter", berichtete die 67-jährige Lidia Zubowa, die aus der kleinen Stadt Antoniwka ins nahe gelegene Cherson geflohen war, der Nachrichtenagentur Reuters.

Der Damm bröckelt weiter

Wann der Höhepunkt der Flutwelle erreicht wird, war allerdings auch Stunden nach der Zerstörung des Dammes, für die sich die Ukraine und Russland gegenseitig verantwortlich machten, nicht klar. So war auf Videos in den Sozialen Medien nicht nur zu sehen, wie ein riesiges Loch in der mehrere hundert Meter langen Staumauer klafft, sondern auch wie Teile des gigantischen Bauwerkes immer weiter abbröckeln. Teile des am südlichen Flussufer gelegenen Maschinenhauses ragten etwa am Morgen noch deutlich aus dem Wasser, waren am Nachmittag aber schon fast gänzlich überspült. Sollte der Damm weiter einstürzen, könnte der Pegel in den bereits überfluteten Gebieten in den kommenden Tagen also nochmals weiter steigen. Im Nord-Krim-Kanal, der für die Frischwasserversorgung der von Russland seit 2014 besetzten Halbinsel eine wichtige Rolle spielt, könnte der Wasserstand dagegen sinken. "Das Schlimmste steht uns wohl noch bevor", sagte Oleksandr Tolokonnikov von der ukrainischen Militärverwaltung in Cherson. Eine direkte Gefahr für das 150 Kilometer flussaufwärts gelegene AKW Saporischschja bestand nach Einschätzung der UNO-Atomaufsicht IAEA dagegen nicht. Die Kühlwasserbecken des größten europäischen Kernkraftwerks werden zwar aus dem riesigen Stausee gespeist, sind aber so ausgelegt, dass sie auch Wochen ohne neue Wasserzufuhr auskommen.

Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hatten russischen Truppen das 1956 errichtete Kachowka-Wasserkraftwerk gegen drei Uhr morgens von innen heraus gesprengt. Die Zerstörung des Staudamms beweise der gesamten Welt nur, dass Russland aus jedem Winkel der Ukraine vertrieben werden müssen, schrieb Selenskyj auf dem Kurznachrichtendienst Telegram. "Kein einziger Meter sollte ihnen bleiben, denn sie nutzen jeden Meter für Terror."

Andrij Jermak, der Chef des Präsidentenbüros in Kiew, spekulierte am Dienstag dagegen schon über die Motive für die Zerstörung des Damms. Seiner Einschätzung nach hat Russland die Staumauer gesprengt, um die geplante ukrainische Gegenoffensive auszubremsen und den landwirtschaftlichen Bewässerungssystemen im Süden der Ukraine Schaden zuzufügen. Die negativen Folgen der "größten menschengemachten Katastrophe seit Jahrzehnten" würden in den kommenden Jahren Hunderttausende zu spüren bekommen.

Schwierige Flussüberquerung

Auch westlichen Militäranalysten gehen davon aus, dass die von Völkerrechtsexperten als Kriegsverbrechen gewertete Zerstörung des Damms der russischen Armee zumindest kurzfristig Vorteile verschaffen könnte. Denn großflächigen Überflutungen im Oblast Cherson würde für die Ukraine nicht nur das Übersetzen auf das von Russland kontrollierte südliche Dnipro-Ufer in den kommenden Wochen schwieriger machen. Die russische Militärführung müsste in den betroffenen Gebieten wohl auch weniger Truppen zur Verteidigung bereit halten und könnte frei werdende Kräfte an andere Frontabschnitte verlegen. "Die Überflutungen werden sowohl Auswirkungen auf den russischen Verteidigungsgürtel wie auch auf allfällige Flussüberquerungen der Ukraine in Cherson haben", schreibt Mark Hertling, der frühere Oberkommandierende der US-Armee in Europa, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. (rs)