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Vereidigung unter Boykott

Von Martyna Czarnowska

Politik

Oppositionsabgeordnete weigern sich, im Parlament Verfassungseid zu leisten. | Krise um Mandate statt Debatte um Verfassung.


Ankara. Wüste Beschimpfungen, Handgreiflichkeiten oder Haftstrafen, die auf Reden in einer ungewünschten Sprache - auf Kurdisch - folgten: All das hat es im türkischen Parlament bereits gegeben. Doch die Ereignisse bei der gestern, Dienstag, erfolgten konstituierenden Sitzung des Abgeordnetenhauses in Ankara waren eine Premiere. Fast ein Drittel der vor gut zwei Wochen neu gewählten Mandatare weigerte sich, den Eid auf die Verfassung abzulegen.

Für Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine regierende konservative Partei AKP beginnt die dritte Legislaturperiode so mit einem Boykott. Der werde dauern, bis alle Abgeordneten seiner Fraktion aus der Haft entlassen seien und vereidigt werden können, erklärte Kemal Kilicdaroglu, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei, der linkskonservativen CHP.

Diese hält 135 Mandate von 550 Parlamentssitzen. Allerdings sitzen zwei der Abgeordneten im Gefängnis; vorgeworfen werden ihnen Verbindungen zu einem mafiösen Netzwerk aus Politikern, Geschäftsleuten und Militärs, die Umsturzpläne hegten. Ein Gericht wies den Appell zur Freilassung der Verdächtigen ab und hinderte die Parlamentarier daran, an der konstituierenden Sitzung teilzunehmen.

Abgeordnete in Haft

Es ist aber nicht die einzige Gerichtsentscheidung, die für Empörung in den Reihen der Opposition sorgt. Auch die Anträge auf die Freilassung zweier kurdischer Abgeordneter lehnten die Richter ab. Und einem Parlamentarier hat die staatliche Wahlkommission das Mandat bereits entzogen. Daher beschloss die pro-kurdische BDP, die konstituierende Sitzung ebenfalls zu boykottieren.

Die Inhaftierten waren als unabhängige Kandidaten zur Parlamentswahl angetreten. Erst danach wollte sich die BDP im Abgeordnetenhaus zu einem Klub formieren: So umging die Gruppierung die hohe Zehn-Prozent-Hürde für Parteien für den Einzug ins Parlament.

Das dem kurdischen Politiker entzogene Mandat ging an die regierende AKP, und auch fünf weitere Stimmen könnten der BDP verloren gehen, die bei der Wahl 36 Sitze gewonnen hat. Weil die Parlamentarier eben im Gefängnis sitzen. Ihnen wiederum wird vorgeworfen, die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu unterstützen.

Und auch in den Reihen der rechtsnationalistischen MHP - mit ihren 53 Mandaten - befindet sich ein inhaftierter gewählter Parlamentarier. Die Fraktion sah von einem Boykott allerdings ab.

Die Mandatsverschiebungen - und mögliche Verluste für andere Parteien - könnten sich als günstig für Erdogans allein regierende AKP erweisen, die beim Urnengang 326 Parlamentssitze errungen hat. Denn nur wenige Mandate fehlen ihr, um im Alleingang eine Verfassungsreform einzuleiten, über die dann das Volk in einem Referendum abstimmen müsste. Für eine Änderung des Gesetzes im Parlament wäre hingegen eine Zweidrittelmehrheit notwendig.

Warten auf Grundrechte

Allerdings birgt es für die AKP auch Gefahren, die Verfassungsreform, eines der wichtigsten politischen Projekte, ohne Absprache mit anderen Parteien durchzuführen. Sollte das Gesetz, dessen Änderung nichts weniger als die Stärkung der Demokratie in der Türkei zum Ziel haben muss, nicht auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens basieren, wird es dem Land neue Unruhe bescheren. So warten Millionen Kurden mit wachsender Ungeduld darauf, dass ihnen ihre Minderheitenrechte gewährt werden.

Schon jetzt sorgt der Streit um die Sitze im Parlament in Ankara für Spannungen im Südosten der Türkei. Demonstrationen von kurdischen Anhängern der BDP hat die Polizei - einmal mehr - gewaltsam aufgelöst.