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Skypen und Singen

Von Georg Oswald

Politik

Die estnische Metropole Tallinn, gemeinsam mit Turku Europäische Kulturhauptstadt 2011, verbindet High-Tech-Kompetenz mit Lust an der Tradition.


Die alte Hansestadt Reval, die seit 1918 offiziell Tallinn heißt, zieht heuer im Doppelpack mit der finnischen Stadt Turku als "Europäische Kulturhauptstadt" Aufmerksamkeit auf sich. Das ist aus unterschiedlichen Gründen begrüßenswert. Zum einen, um die weißen Flecken innerhalb jeder persönlichen Europa-Karte zu schattieren. Nicht alle Bürger Europas können schließlich die baltischen Staaten geographisch richtig orten. Zum anderen, weil die Hauptstadt Estlands innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre auf eine rasante wirtschaftliche und soziale Entwicklung zurückblicken kann. Und die betrifft nicht nur das High-Tech-Faible, für das der kleinste der drei baltischen Staaten bekannt geworden ist.

Die Software für KaZaa und Skype wurden von Esten entwickelt, und die Möglichkeit der elektronischen Stimmabgabe bei Wahlen wird in Estland bereits praktiziert. Doch beeindruckt auch die estnische Unabhängigkeit als kurzer historischer Augenblick jener Selbstbehauptung, die sich im Widerspruch zur Sowjetzeit gebildet hat.

Mit der russischsprachigen Bevölkerung in ihrem Staatsgebiet tut sich das Land mitunter schwer, umgekehrt wohl auch. Davon zeugen die gewaltsamen Proteste russischer Bürger, die 2007 die Verlegung eines russischen Soldaten-Denkmals verhindern wollten. Rund 25 Prozent russische Bevölkerung weist die Statistik für das gesamte Land aus. In grenznahen Städten wie Narva sind es 95, für die Stadt Tallinn fast 40 Prozent. Zumindest in der Hauptstadt ist der fließende Übergang von einer Sprache in die andere gut zu hören.

Romantische Altstadt

Wer durch die dicken Bögen der historischen Stadtmauer tritt, findet sich in einer eigenen Welt wieder. Spitzgiebelige Fassadenensembles prägen die Gassen und Plätze, auf denen sich in den wärmeren Jahreszeiten Touristenmassen voranschieben. Aufziehbalken erinnern an die einstige Verwendung als Lagerhäuser. Um die Restauranteingänge bilden sich Menschentrauben. Hier stehen Gleichgesinnte zum Frischlufttabakkonsum zusammen. In Estlands Gastronomie gilt seit 2007 ein striktes Rauchverbot, an das man sich selbst in zwielichtigen Spelunken hält.

Ein gewisser Hang zur Öffentlichkeit wohnt auch dem Alkoholkonsum inne. Zahlreiche einschlägige Geschäfte bieten ihre Produkte in der Altstadt an. Von diesem Angebot machen wohl nicht nur die finnischen Tagestouristen Gebrauch, die sich hier mit preiswerten Flüssigkeiten für die Heimreise eindecken.

Neu in Estland ist seit Beginn des Jahres der Euro als Zahlungsmittel. Die Bewohner vermissen mitunter die nationalen Symbole auf den Kronen-Münzen, an die man sich seit 1992 gewöhnt hatte. Auch hört man nach wie vor die Befürchtung, das Leben könnte durch den Euro teurer werden.

Der Entwurf für die Darstellungen der Euro-Münzen stammt vom estnischen Designer Lembit Lõhmus. Per Telefonabstimmung entschied sich eine Mehrzahl der Esten für dessen Darstellung der Landesgrenzen. Weniger Gefallen an den fest geprägten Konturen des Nachbarstaates hatte Russland, das Estland bei der Euro-Einführung vorwarf, auf der Münze russisches Territorium für sich zu reklamieren, während die Esten mit dem Verweis auf eine gewisse künstlerische Freiheit regierten. Auch hier verheilen alte Wunden schlecht.

Innerhalb der Stadtmauern Tallinns verweist man stolz auf den Turm der St. Olavs Kirche, der es im ausgehenden Mittelalter auf eine Höhe von 159 Metern brachte und somit als höchster Kirchturm seiner Zeit galt. Kein Kirchenbau dieser Zeit und dieser Dimension kommt ohne die dazugehörige Geschichte vom Mitwirken dunkler Mächte aus, die schlussendlich ausgetrickst werden konnten.

Schöne Legenden

Die historische Stadt kann mit weiteren Superlativen aufwarten. Die älteste Apotheke befindet sich seit 1422 hier. Nun gut, denselben Rekord beansprucht auch die Franziskanerapotheke in Dubrovnik. Diese kann auf die verbürgte Jahreszahl 1317 verweisen. Also ist zu präzisieren: Die älteste Apotheke Nordeuropas oder die älteste Apotheke, die heute noch in Betrieb ist. So könnte es stimmen.

Die Stadt putzt sich noch mit einer anderen Besonderheit heraus. So soll auch das Marzipan hier entstanden sein. Zumindest in der Form, die man in Manufakturen verarbeiten konnte. Die Lübecker müssen bei dieser Selbstzuschreibung weghören, denn sie behaupten dasselbe von sich. Wo aber die Verarbeitung des Marzipans wirklich begann, ob in Tallinn oder Lübeck, das lässt sich heute mit Gewissheit nicht mehr feststellen. Jedenfalls kann man im Marzipan-Museum des Süßwarenherstellers Kalev zusehen, wie Kunsthandwerkerinnen mit feinhaarigen Pinseln Figuren aus der Mandel-Zuckermasse dekorieren.

Geschichten-Erzählen dient der Selbstfindung, der Herausbildung eigener Identität und ist ein Motto des Kulturhauptstadtprogramms. "Geschichten vom Strand" klingt als grob vorgegebener Spruch nicht gerade umwerfend; "Geschichtenerzählen rettet die Welt", das zweite Motto des Programms, ist mitreißender. Doch muss man Tallinns Strand gesehen haben, vor allem die riesigen Fährschiffe, die zwischen Helsinki und Tallinn hin- und herfahren: so mächtig, dass eine Handvoll Häuser darin Platz finden könnte.

An den frostigsten Tagen des Winters kann es passieren, dass die Riesenschiffe im Eis ihrer rund 80 km langen Fahrrinne stecken bleiben. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Eisautobahnen zu den küstennahen Inseln auf dem Meer freigegeben werden.

Der freie Meereszugang von der Stadt aus ist ein Phänomen der jüngsten Zeit. "Früher war hier ja alles Sperrgebiet", erklärt Maris Joona vom Organisationsbüro der Kulturhauptstadt, und versucht damit, das Besondere der Stadt verständlich zu machen. Der Tallinner Meereszugang war gleichbedeutend mit Industrie, Abwässern und Militär. Jetzt sind möglichst viele Menschen aus und in Tallinn dazu aufgerufen, ihre Stadt-Geschichte zu erzählen. Aus den Kurzgeschichten entstehen ein Film, ein Wettbewerb, und es wäre nicht Estland, würden daraus nicht auch e-storys in einem Online-Projekt.

Ein zentraler Punkt im neu gesetzten Ensemble zur Steigerung des Meereszugangs ist das neue Meeresmuseum. Aus dem Jahr 1918 stammt ein Hangar für Wasserflugzeuge, der mit seinen Betonkuppeln Architekturgeschichte geschrieben hat und nun sorgfältig restauriert wird. Die Eröffnung des neuen Museums im alten Hangar-Komplex wurde schon mehrmals verschoben. Aber Eile spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Schließlich ist man in Tallinn bemüht, Impulse zu setzen, die über das Kulturhauptstadtjahr hinaus gehen.

Außerhalb des Stadtzentrums ist das Rotermann-Viertel eine Herzeige-Region, in der man alte Backstein-Industriebauten in neue architektonische Konzepte integrierte. Man muss heute seine Fantasie bemühen, will man einen Eindruck davon bekommen, wie die Gegend früher ausgesehen hat. Oder man sieht sich Andrei Tarkovskys 1979 entstandenen Film "Stalker" an, für den der russische Regisseur hier ideale Kulissen vorfand.

Heiliger Sandstein

Die Plattenbauten rund um den historischen Stadtkern begleiten alle Tallinn-Besucher, die sich aus dem Stadtzentrum heraus bewegen. Während das renovierte Rotermann-Viertel mit seinen Boutiquen, Galerien und Büroflächen in den ehemaligen Fabriksgebäuden hip sein mag, sind die lang gestreckten, bis zu neunstöckigen Wohnquader Ausdruck von leistbaren Behausungen, die auf eine entsprechende Infrastruktur nicht verzichten müssen.

Den Esten gilt der Sandstein als heilig. Auch für den Neubau des Museums moderner Kunst, den der finnische Architekt Pekka Vapaavuori konzipierte, wurde auf diesen Stein zurückgegriffen. In der schleifenartigen Anlage wird auf mehreren Ebenen die estnische Kunst verschiedener historischer und zeitgenössischer Richtungen präsentiert. Bemerkenswert ist dabei, dass man die Zeit des Sozialistischen Realismus nicht ausgeklammert hat. Er ist mit seinen naiven Heroisierungen der Arbeitskraft genauso vertreten wie die mitunter erstaunlichen Möglichkeiten, an die Grenzen des damals künstlerisch Erlaubten zu gehen.

In vielen Reiseinformationen werden die Esten als wortkarg bezeichnet. Das möge jeder Besucher selbst überprüfen. Aber es gibt etwas, das den Esten noch tiefer zu Herzen geht als das Geschichten erzählen: das Singen. Und wenn sie singen, tun sie das aus voller Überzeugung. Wer den Sängerplatz in Pirita am Stadtrand von Tallinn besucht, kann sich, auch wenn das Freiluftauditorium gerade leer ist, die Inszenierung vorstellen, die sich einer Anlage bedient, in der über 200.000 Menschen Platz finden. Singen ist hier ein politisches Zeichen, von dem nicht nur das Schlagwort der "singenden Revolution" zeugt.

Ob bei den großen Sängerfesten in Tallinn denn auch Russen mitsingen würden, wollte ich von der begeisterten Outdoor-Expertin wissen, die noch in der Schule Russisch gelernt hat. Ihr Gesichtsausdruck, der stummes Unverständnis ausdrückte, brachte das estnisch-russische Verhältnis besser auf den Punkt als jede gesprochene Erklärung.

Georg Oswald, geboren 1966, lebt als Sprachentrainer, Journalist und Übersetzer in Wien.