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Die fabelhafte Welt der Genevieve

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Politik
Die Tristesse der "Problemvorstadt" ist noch überall greifbar, durch die verbesserten Verkehrsverbindungen sollen die Banlieues aber auch sozial und kulturell näher an Paris heranrücken.
© © © Carlos Cazalis/Corbis

Die berüchtigte Banlieue Saint-Denis bekommt eine Uni und eine Metro.


Saint-Denis/Paris. Genevieve Pelissier ist bestens vorbereitet mit ihrer Mappe unter dem Arm, in der alles steht: Zahlen, Daten, Fakten über ihren Heimatort Saint-Denis. Pläne über die Verlängerung der Metro und den Bau eines neuen Uni-Campus für 15.000 Studenten in wenigen Jahren. Dokumente, die sie umsonst mitgeschleppt hat: Sie muss kein einziges Mal hineinblicken, hat alles über Saint-Denis im Kopf. Und was noch wichtiger ist: Sie trägt es in ihrem Herzen. Das klingt schwülstig, und doch ist es so. "Ich gehöre hierher, mit Leib und Seele", sagt die 64-Jährige.

Das lässt aufhorchen. Es hängen zwar viele Menschen an ihrer Stadt. Aber selten, wenn sie in Saint-Denis leben, das direkt an den Norden von Paris anschließt. Saint-Denis gehört zum 93. Departement Seine-Saint-Denis, das verrufenste in ganz Frankreich. Dieser Wohnort im Lebenslauf ist für viele Unternehmen ein Grund, einen Bewerber gar nicht zum Gespräch einzuladen. Denn hier konzentrieren sich viele der ungelösten Probleme des Landes: Die Kriminalitäts- und Arbeitslosenquote liegt weit über dem Landesdurchschnitt, besonders unter den Jungen. Ein hoher Anteil der Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze und hat Migrationshintergrund; soziale Durchmischung findet kaum statt.

Die Ursachen liegen Jahrzehnte zurück: Als Frankreich in den 60er Jahren massiv Arbeitskräfte aus dem Ausland anwarb, entstanden hier riesige Wohnsiedlungen, die mit der Deindustrialisierung herunterkamen und sich zu Ghettos entwickelten, im schlimmsten Fall gar zu rechtsfreien Räumen. Und Paris, die glamouröse Hauptstadt, schien viel weiter entfernt als die paar Kilometer, die es von ihren sozialen Brennpunkten trennt. Banlieue, der eigentlich neutrale Begriff für Vorstadt, ist nicht nur in der deutschen Sprache negativ belegt.

"Kreativer als Paris"

Seitdem gelten diese Inseln der Ausgegrenzten als Pulverfässer. Zweimal sind sie in den letzten Jahren explodiert: Der Tod zweier Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei löste im November vor sechs Jahren gewalttätige Unruhen im ganzen Land aus, bei denen sich vor allem junge Aufständische brutale Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Präsident Jacques Chirac rief den Notstand aus, Innenminister Nicolas Sarkozy drohte, die brennenden Vorstädte mit dem Hochdruckreiniger vom "Gesindel" zu säubern. Im Herbst 2007 kam es erneut zu Banlieue-Krawallen, die die Machtlosigkeit oder auch den Unwillen der Politik zeigten, das Problem in den Griff zu bekommen. Sarkozy, der in seiner Präsidentschaftskampagne 2007 einen Schwerpunkt auf das Thema Sicherheit gesetzt hatte, vernachlässigte seinen "Plan Hoffnung Banlieue" bald wieder. Trotz verstärkter Polizeipräsenz und zahlreicher Initiativen - von Bewerbungshilfe bis zu kulturellen Projekten - hat sich wenig gebessert.

Und doch greift der Stempel "Problemvorort" zu kurz. "Diese Stigmatisierung wird uns nicht gerecht", sagt Genevieve. "Sehen Sie sich doch um: Wir sind hier im Herzen eines revolutionären Wandels." Genevieve deutet auf die riesige Baustelle: Hier wird bis nächstes Jahr die Verlängerung einer Straßenbahn und einer Metro nach Paris fertiggestellt.

Die Pläne sind Teil des milliardenschweren Großprojektes "Grand Paris", in dessen Rahmen der öffentliche Nahverkehr um die Hauptstadt massiv ausgeweitet wird. Für die Banlieues bedeutet dies eine große Chance: Die geografische Ausgrenzung hat die soziale stets mit bedingt. Die bessere Erreichbarkeit der Hauptstadt mit ihren Unis, den beruflichen und kulturellen Möglichkeiten ist entscheidend - und macht wiederum die so berüchtigten Vorstädte attraktiv für den Mittelstand, für Familien, die sich die horrenden Pariser Mietpreise nicht mehr leisten können und wollen. In der 100.000-Einwohner-Stadt Saint-Denis entstehen derzeit tausende neue Wohnungen. Die Firmen sind schon längst hier auf dem riesigen Wirtschaftszentrum Plaine Saint-Denis: Alle großen französischen Fernsehsender haben hier Studios oder Büros, aber auch viele Unternehmen wie der Telekommunikations-Konzern Orange oder der Erdgasversorger GDF Suez.

Auch Bürgermeister Didier Paillard verteidigt die Stadt gegen ihr schlechtes Image. Sie sei lebendiger und kreativer als Paris, auch kosmopolitischer als die Hauptstadt - 130 verschiedene Nationalitäten leben in Saint-Denis, fast die Hälfte der Einwohner ist jünger als 30. "Beides sehe ich nicht als Nachteil, sondern als Chance." Auch für Touristen gewinnt der Ort an Anziehungskraft, nicht nur weil Hotelzimmer günstiger sind als in Paris. Mit der gotischen Kathedrale, einem historischen Stadtkern und dem fünftgrößten Stadion Europas, dem Stade de France, sei Saint-Denis für all jene interessant, die Paris über die üblichen Sehenswürdigkeiten hinaus kennenlernen wollen, sagt Vincent Chartier, Kommunikations-Chef im Departement 93. "Hier entsteht ein Tourismus, der die Begegnung mit den Menschen sucht." Deshalb läuft das Projekt der "Greeters" auch so gut: Keine professionellen Stadtführer, die Einwohner selbst zeigen ihre Stadt. Auch Genevieve ist "Greeter". Als sie vor 24 Jahren aus dem südfranzösischen Montauban kam, beschloss sie: "Entweder du gehst - oder du bleibst und machst das Beste draus." Heute ist die Rentnerin stolz auf Saint-Denis. Und spricht in Anspielung auf den berühmten Amelie-Film, der im nördlich gelegenen Montmartre-Viertel von Paris spielt, von der "fabelhaften Welt des Pariser Norden".