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Das Erwachen der "Generation Putin"

Von WZ-Korrespondentin Inna Hartwich

Politik

Sie sind unter Putin aufgewachsen - jetzt sind sie gegen die Staatsspitze.


Moskau/Uljanowsk. Es war die Neugier. Der Vergleich. Zwischen dem, was im Fernsehen läuft, und dem Geschehen auf der Straße. Also machte sich Anton Owtscharow auf ins Zentrum der russischen Hauptstadt, direkt nach den Parlamentswahlen. Er war verunsichert. Stimmte das denn alles, was die Staatsspitze einem weismachen wollte? Dass alles geregelt ist im Land, dass sie jede Anstrengung unternehme, damit es dem Volk gut gehe? Anton stand auf der ersten Anti-Regierungsdemo seines Lebens und beantwortete sich die Fragen selbst. "Irgendetwas läuft gewaltig schief in unserem Land."

Olga, 25: "Wir wissen, dass wir etwas tun müssen."

Jetzt steht der 20-Jährige in einem Moskauer Café und diskutiert mit anderen Protestlern, wie er den Rest der Bevölkerung davon überzeugen kann, dass Russland Veränderungen brauche. Es sind nur ein Dutzend gekommen, "Werkstatt" nennen sie ihr Treffen im Kellerräumchen mit dem programmatischen Namen "Zavtra" (Morgen). Anton will Busse und Trams mit weißen Bändchen versehen, dem Symbol der Anti-Regierungsbewegung.

"Ich war ein ganz normaler Jugendlicher, der Propaganda des gelenkten Staatsfernsehens erlegen, das einem glaubhaft versichert, die Jungs an der Macht seien die Guten", sagt Anton, der Marketing-Student.

Es waren Kleinigkeiten, die den schmächtigen Jungen ins Wanken brachten: Unfälle vor der Haustür, die unaufgeklärt blieben, die barsche Behandlung der Großmutter durch die Polizei, seine Reise nach Ulan Ude, noch hinter dem Baikalsee. Das Fernsehen lieferte Bilder von einer heilen Welt, die Realität zeigte marode Straßen. "Ich will die Augen nicht mehr verschließen", sagt er und muss weiter - Flyer verteilen.

Umbruch des Bewusstseins

Für das Treffen mit Gleichgesinnten ist sie in die grauen "Walenki" geschlüpft, die traditionellen russischen Filzstiefel. Doch Olga Kuratschowa stand auch schon barfuß im Schnee. Nackt - gegen Putin. "Der Staat hat uns bei der Parlamentswahl die Stimme gestohlen, unsere bürgerliche Position kann er uns nicht nehmen", sagt die 25-Jährige, die in den vergangenen Wochen so etwas wie einen "Umbruch des Bewusstseins" erlebt hat.

Alles steht seitdem Kopf. Ihre Freunde sieht sie seltener, dafür hat sie neue kennengelernt, sie verbrachte Stunden auf der Polizeiwache, investiert ihre Zeit und ihr Geld in den Protest, verpasst kaum eine Antiregierungsaktion in der russischen Hauptstadt. "Früher wollte ich auswandern", sagt sie. "Jetzt aber will ich Moskau nicht einmal für ein paar Tage verlassen. Das Land ändert sich. Und wir selbst sind es, die es verändern."

Solche Gedanken waren der Journalistin, die nun im Tschechischen Kulturzentrum in Moskau arbeitet, noch vor drei Monaten fremd. Über das Putin-System - "in seinen Grundzügen zur Diktatur neigend" - habe sie zwar schon lange heftig debattiert. In der Küche, mit Familie, Freunden. Aber auf der Straße? Dann kamen der 4. Dezember, die Parlamentswahlen, der 5. Dezember, die erste Demo, der 6. Dezember, die erste Festnahme. Olga blüht regelrecht auf, wenn sie über ihr politisches Erwachen spricht. "Wir wissen nicht, was man tun kann, aber wir wissen, dass wir etwas tun müssen. Wir proben die Zivilgesellschaft." Ein Zurück gibt es für die 25-Jährige nicht mehr. "Es wäre Verrat an mir selbst."

Der Provinzler

Seinen großen Erfolg hätte er fast verpasst. Im Zentrum von Uljanowsk standen Anfang Dezember 1500 Menschen auf der Straße und forderten ein "Russland ohne Putin". Das hatte es hier an der Wolga noch nie gegeben. Wjatscheslaw Jemeljanow saß derweil auf der Polizeiwache und musste sich gegen den Verdacht des Extremismus wehren. Der 20-Jährige hatte die Anti-Regierungsdemo in der 600.000-Einwohner-Provinzstadt organisiert. "Man muss doch was tun." Die Polizei sah das anders und ließ den Studenten erst frei, als sich die Demonstranten fast auf den Rückweg machten.

"Ich will soziale Gerechtigkeit", sagt Wjatscheslaw, den alle nur bei seinem Kurznamen "Slawa" rufen. Und von der sei Russland weit entfernt. Korruption, kaum Wohnraum, Beamtenwillkür - der junge Oppositionelle aus der Geburtsstadt Lenins fordert "einfach nur ein besseres Leben". Seit einem halben Jahr engagiert er sich für "Jabloko", die vom Kreml am meisten gefürchtete Oppositionspartei. Das Arbeiterkind studiert Verwaltungswissenschaften - und weiß, dass er niemals Beamter wird. Aber auch kein Unternehmer. Dafür stehe er auf zu vielen Listen der Polizei. "Ich tue nichts Unrechtes, doch das Recht legen viele nach eigenem Gutdünken aus." Doch abhauen wie viele seiner Altersgenossen? "Hier an der Wolga bin ich zu Hause. Und hier will ich Veränderungen."