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"Mit der Opferrolle geht moralische Stärke einher"

Von Alexander Dworzak und Sarah Dyduch

Politik

Zwei Jahrzehnte nach Bürgerkrieg ist man am Balkan unversöhnt.| Balkan-Experten Mijic und Cipek in Wien.


Wien. Vor fast 20 Jahren, im April 1992, begann der Krieg in Bosnien und Herzegowina. Fast 100.000 Personen wurden bei den drei Jahre andauern Kämpfen getötet. Der Krieg hinterließ Narben, die bis heute das Zusammenleben der Ethnien des Landes prägen: Serben, Kroaten und Bosniaken, die muslimischen Einwohner, leben nebeneinander statt miteinander.

In Mostar trennt der Fluss Neretva nicht nur Bosniaken und Kroaten; in der nur rund 110.000 Einwohner zählenden Stadt gibt es zwei Busbahnhöfe und zwei Universitäten - eine Einrichtung für die jeweilige Community. Gegenbeispiele wie die von Nationalismus verschonte Stadt Odzak im Norden des Landes sind zwar vorhanden, die Einteilung der bosniakisch-kroatischen Föderation in zehn monoethische Kantone erleichtert das Zusammenwachsen aber ebenso wenig wie die Sezessionsbestrebungen des mehrheitlich von Serben bewohnten Teilstaats Republika Srpska.

"Sowohl Serben als auch Kroaten in Bosnien orientieren sich in Richtung Belgrad beziehungsweise Zagreb", sagt Ana Mijic im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Laut der Soziologin, derzeit Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, setzen sich insbesondere die Bosniaken für einen funktionierenden multiethischen Staat ein - denn sie hätten im Gegensatz zu Kroaten und Serben keinen anderen "Mutterstaat". Einig sind sich die drei Volksgruppen nur in ihrer Opferrolle gegenüber den anderen. "Die Kroaten sehen sich als Opfer serbischer Aggression in den Kriegen ab 1991. Bosniaken fühlen sich als Opfer der Kriegshandlungen von Kroaten als auch Serben. Und der serbische Opferstatus fußt in der Annahme, das Opfer einer westlichen Medienkampagne zu sein", erklärt Mijic.

Ohne Einsicht

Indem Personen die eigene Volksgruppe als Opfer sehen, kämen sie zur Überzeugung, dass deren Ziele während des Krieges legitim und moralisch gerechtfertigt gewesen seien. Für die Soziologin gehe mit der Opferrolle auch Macht und moralische Stärke einher: Politiker und die Bevölkerung können sich so von jeglicher Schuld distanzieren.

Als Beispiel führt sie die Verurteilung des kroatischen Ex-Generals und Volkshelden Ante Gotovina vor dem Haager Tribunal im Vorjahr an, die heftigen Protest hervorrief. "Personen erlebten die 24-jährige Haftstrafe als Angriff auf die eigene Identität, als Angriff auf das Wir", so Mijic.

Jene kollektiven Identitäten fußen auf Geschichtsmythen; vergangene Ereignisse, die eine spezielle Bedeutung für die Gegenwart haben. Der kroatische Mythos seit der Unabhängigkeitserklärung im Juni 1991 wurzelt in der Einigung der nach dem Zweiten Weltkrieg tief gespaltenen Gesellschaft, als sich Partisanen und Kollaborateure des faschistischen Ustascha-Regimes unversöhnlich gegenüber standen.

"Politisch tot"

Gotovinas Verurteilung erschütterte die Kroaten auch, da sie die national unumstrittene Deutung, das Land wäre kein Aggressor gewesen, ins Wanken brachte. Diese Rolle ist auch in der 2000 vom Parlament verabschiedeten "Deklaration über den Heimatkrieg" festgeschrieben - "wer gegen diese Darstellung ist, ist politisch tot", konstatierte der Zagreber Professor Tihomir Cipek bei einem Vortrag im Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen am Dienstag.

In Serbien ist nach Darstellung des Politologen noch keine neue Identität in Sicht, das Land befinde sich auf einer rastlosen Suche zwischen EU-Kurs und dem Gründungsmythos Kosovo. Von den Experten unbehandelt blieb, inwieweit mit dem derzeitigen politischen Personal in Serbien, Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina eine Überwindung der Lage überhaupt möglich ist.