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"Europa darf kein Problem sein, es ist die Lösung"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Politik

Frankreichs Europa-Minister tritt für eine "solidarische Integration" ein.


"Wiener Zeitung": Umfragen in Frankreich und Deutschland bezeugen einen zunehmenden Pessimismus gegenüber Europa. Wie kann die Politik darauf reagieren?Cazeneuve: Europa steht einer tiefgreifenden Krise gegenüber. Sie schwächt die Länder, liefert die Menschen aus, schafft Ängste. Deshalb hängt die Aussöhnung Europas mit den Menschen zum Großteil von der Fähigkeit ab, eine präzise Antwort auf ihre Sorgen zu finden.

Ob es sich nun um die Bankenordnung handelt, die ansteigenden Zinsen, die wachsende Arbeitslosigkeit: Gelingt es uns nicht, diesen Herausforderungen zu begegnen, geraten wir in eine noch tiefere Krise, die das Europa-Projekt und vielleicht sogar die Demokratie aushöhlen wird.

Wie geht Frankreich konkret vor, um diese Antworten zu finden?

Wir müssen die Zusammenarbeit mit unseren Partnern verstärken, in erster Linie mit Deutschland. Aber die Stärkung der deutsch-französischen Achse läuft über ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis und die Öffnung gegenüber anderen europäischen Akteuren - ich denke dabei vor allem an Spanien und Italien. Außerdem müssen wir, im Rahmen der bestehenden Verträge, Maßnahmen ergreifen, um Wachstum zu schaffen, die Banken zu ordnen und die finanzielle Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Das sind drei der großen Errungenschaften des Europäischen Rates vom Juni, der 120 Milliarden Euro für Wachstumsmaßnahmen mobilisiert hat.

Wie lassen sich die deutsche Forderung nach mehr politischer Integration und die französische nach mehr Solidarität vereinbaren?

Präsident Hollande hat erklärt, dass Frankreich eine solidarische Integration bevorzugt. Wir stellen uns keineswegs gegen einen Prozess zusätzlicher politischer Integration, auch nicht gegen Ideen für eine künftige Wirtschafts- und Währungsunion über die bestehenden Verträge hinaus. Wir wollen aber, dass diese Entwicklungsprozesse mit mehr Solidarität einhergehen. Mehr politische Integration muss einem erkennbaren Ziel dienen, damit die Menschen verstehen, inwiefern institutionelle Veränderungen konkrete Auswirkungen auf ihr Leben haben. Wir müssen den europäischen Traum spürbar machen. Europa darf nicht ein Problem sein, es ist eine Lösung.

In Frankreich und in Deutschland versteht man unter Solidarität nicht immer dasselbe - auch nicht unter befreundeten Parteien. Wie werden diese Unterschiede ausgeglichen?

Die Europawahlen 2014 müssen eine Gelegenheit sein, Abweichungen zwischen den linken Formationen innerhalb der EU in den Griff zu bekommen, um gemeinsam ein linkes europäisches Projekt aufzustellen. Es ist eine große Herausforderung für die Linke in Europa, zu erreichen, dass solidarische Integration auch Budgetdisziplin und Vergemeinschaftung der Schulden beinhaltet. Die zusätzliche politische Integration muss konkreten Projekten dienen - wie der nachhaltigen Entwicklung, Zukunfts-Investitionen, Fragen des Klimawandels.
Die Debatten darüber müssen überall stattfinden, links wie rechts.

Spielen in Europa, wo fast ausschließlich zwischenstaatlich verhandelt wird, die Parteien nicht nach wie vor nur Nebenrollen?

Ich trete für eine gemeinsame Kampagne der europäischen Sozialdemokraten mit einem europäischen Anführer ein, der ihr Kandidat für die Präsidentschaft der EU-Kommission ist. Das hätte große Auswirkungen auf die europäische Sozialdemokratie, und dafür bräuchte man keine institutionelle Reform. In der Krise haben die Sozialdemokraten angefangen, viel enger zusammenzuarbeiten. Und ich glaube, vor den Wahlen wird sich das noch verstärken.

Was kann das anstehende 50-jährige Jubiläum des Élysée-Vertrages beitragen, als Grundstein der deutsch-französischen Beziehung?

Für uns ist das eine Gelegenheit, all das zu bestätigen, was wir bisher gemeinsam geschafft haben, und zugleich in die Zukunft zu blicken. Diese Feierlichkeiten müssen der Höhepunkt in einer Kooperation sein, die uns auch in den nächsten 50 Jahren vereinen soll; freilich mit teils anderen Projekten als noch 1962.

Zur Person



Bernard Cazeneuve

war vor seinem Ministeramt Bürgermeister im nordfranzösischen Cherbourg-Octeville. Der 49-Jährige steht Außenminister Laurent Fabius nahe, der wie er noch 2005 für eine Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages eingetreten war.