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Nobelpreis für den europäischen Traum

Von Thomas Seifert

Politik

Die Wiederentdeckung der Gründerväter: Jean Monnet wieder hoch im Kurs.


Brüssel/Oslo/Wien. 503.824.373 Europäer dürfen sich freuen: Ob sie jetzt in ihren Lebenslauf unter "Auszeichnungen" auch "Trägerin des Friedensnobelpreis 2012" schreiben könne, twitterte eine junge EU-Bürgerin launig. Warum nicht? Die Auszeichnung geht an die Europäische Union, das sind die europäischen Bürgerinnen und Bürger und nicht nur Brüsseler Institutionen.

Frankreichs Präsident François Hollande wies darauf hin, dass die Auszeichnung auch an alle Bürger gehe. "Jeder Europäer kann stolz darauf sein, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, die in der Lage gewesen ist, Frieden zwischen Völkern zu stiften, die lange Zeit verfeindet waren", hieß es aus dem Élysée-Palast, dem Sitz des französischen Staatschefs.

"Wir wollen laufende und noch unfertige Entwicklungen für den Frieden mit dem Preis unterstützen" sagt der Chef im Nobelkomitee, der 61jährige Sozialdemokrat, Ex-Regierungschef und jetzige Generalsekretär des Europarates Thorbjörn Jagland.

Jagland sieht deshalb keinen Widerspruch zwischen der diesjährigen Entscheidung und dem in der derzeitigen Krise alles andere als strahlenden Erscheinungsbild der EU: "Wir sehen auch, dass Extremismus und Nationalismus wieder auf dem Vormarsch sind. Der Preis ist ein Signal, dass das Erreichte gesichert werden muss."Die Auszeichnung sei eine Ermahnung, was verloren ginge, "wenn der Union das Auseinanderbrechen gestattet würde".

Die EU habe eine Schlüsselrolle bei der Umwandlung Europas von einem Kontinent des Krieges in einen des Friedens gespielt. Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich nach drei Kriegen sei ein beispielloser Erfolg. "Heute ist ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar." Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, nach Jahrhunderten des Blutvergießens auf dem Kontinent sei eine friedliche Ordnung erreicht worden, zu der auch der Euro gehöre, der mehr sei als eine Währung. Wie sie sahen viele andere Politiker die Ehrung auch als Ansporn für eine Überwindung der Schuldenkrise.

Der Schubs aus Oslo kommt zur rechten Zeit: Eine Generation von orientierungslos, kurzatmig und zänkisch gewordenen Politikern streitet ums liebe Geld, verheddert sich im Dickicht des europäischen Institionengefüges und ist in den komplexen Prozessen "Brussels Bubble" eingeschlossen. Diese "Brüsseler Blase" ist von der real existierenden europäischen Außenwelt so gut wie abgeschnitten und bildet hinter einer dicken Isolierschicht eine abgeschottete Parallelwelt der Kommissare und Beamten, der MEP’s und Lobbyisten.

Der freundliche Schubs aus Oslo soll die europäischen Eliten - und wohl auch die europäischen Bürger - daran erinnern, worum es wirklich geht, in der Union: Um Europa.

Dass Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso und/oder Ratspräsident Herman Achille Van Rompuy am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel die wohl öchste und prestigeträchtigste Auszeichnung der Welt - den mit 930.000 Euro dotierten Friedensnobelpreis - entgegennehmen, ist eine Ironie: Kaum jemals zuvor war die Union in den Augen der Bürger umstrittener, kaum jemals war die Kluft zwischen einzelnen Staaten tiefer und kaum jemals war die Stimmung in Brüssel gedrückter: In den Boulevardblättern des Nordens werden die Spanier, Portugiesen und Griechen als ein Haufen von Faulsäcken und Nichtsnutzen dargestellt, in griechischen Gossenblättern erscheint das Bild der deutschen Kanzlerin Merkel auch mal mit Hitlerbärtchen. Vom Pathos-triefenden Gesülze vom "Friedensprojekt Europa", das sonst in Politiker-Sonntagsreden nie fehlen durfte, war zuletzt wenig zu vernehmen. Und so wirkt die Medaille mit Alfred Nobels Konterfei auch wie ein Trostpreis für den traurigen Nationenbund, der im Lauf der Geschichte als Letzter durchs Ziel gekommen ist.

Euroskeptische Norweger

Der begehrte Preis wird in Oslo übergeben, und auch das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Norwegen ist kein Mitglied der EU, zweimal, 1972 und 1994 haben sich die Norweger gegen den Beitritt votiert, vergangenes Jahr sprachen sich in einer Umfrage 72 Prozent gegen eine EU-Mitgliedschaft aus.

Kann die Zuerkennung des Nobelpreises den Diskurs in Europa verändern?

Zunächst scheint es so: Politiker aller Coleurs bekannten sich am Freitag zur Idee Europa: Der Altbundeskanzler Helmut Kohl begrüßte die Ehrung als "klug und weitsichtig". "Ich freue mich sehr über diese Entscheidung", erklärte der 82-Jährige am Freitag. Kohl endete mit den Worten: "Als Europäer haben wir heute allen Grund, stolz zu sein. Ich bin es." Der CDU-Politiker war von 1982 bis 1998 Bundeskanzler und in dieser Zeit zusammen mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand maßgeblich an der Integration der europäischen Staaten beteiligt. Das ist die berechtigte Anerkennung für ein einzigartiges Projekt, das seinen Bürgern und der Welt gut tut", sagte der Präsident der EU-Kommission, Jose Manuel Barroso. "Selbst in diesen schwierigen Zeiten bleibt die EU eine Inspiration für Länder und Völker in der ganzen Welt." Bundeskanzlerin Merkel sprach von einer wunderbaren Entscheidung. Sie sehe darin auch eine persönliche Verpflichtung, sich für eine tiefere Integration in Europa einzusetzen. Sechs Jahrzehnte Frieden seien für die Menschen in Europa eine lange Zeit. "In der Geschichte ist es nur ein Wimperschlag." Deshalb müsste die Europäer immer aufs Neue daran arbeiten, dieses Friedensprojekt zu erhalten.

Der Präsident des Europaparlaments, der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, nannte die EU "ein einzigartiges Projekt, das Krieg durch Frieden ersetzt hat, Hass durch Solidarität". Zugleich erinnerte er daran, dass der innere Frieden Europas bedroht sei. "Wir sind der reichste Kontinent der Welt, aber wir haben eine sehr schlechte Verteilung dieses Reichtums. Es kann nicht sein, dass wir in einer Union leben, in der in einem Land Leute wirklich richtig reich sind und ihr Geld ins Ausland bringen können und die anderen in Mülltonnen wühlen müssen, um Essen zu finden. Das ist einer Union, die den Friedensnobelpreis bekommen hat, unwürdig."

Bundeskanzler Werner Faymann stößt ins selbe Horn: "Die Zuerkennung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union ist mehr als nur die Würdigung der bisherigen Leistungen der EU, die in ihrem Kern als Friedensinstrument gegründet worden ist. Sie ist auch der Auftrag an die EU, verstärkt für den sozialen Ausgleich zu wirken, Maßnahmen zur Sicherung der Beschäftigung zu setzen und die Menschenrechte zu sichern. In der Weiterentwicklung dieser wichtigen Anliegen aller Menschen sehe ich den Auftrag, den wir Europäer, den die europäische Demokratie mit diesem Preis bekommen haben", so Bundeskanzler Werner Faymann in seiner ersten Stellungnahme.

Bundespräsident Heinz Fischer bezeichnet den 12. Oktober als "guten Tag für Europa". Außenminister Michael Spindelegger hielt fest, dass damit "Schwarzsehern" in der EU eine "klare Absage" erteilt werde.

Der Anstoß aus Oslo

Der Schubs aus Oslo ist eine Aufforderung, zur Ursprungsidee der Europäischen Union zurückzukehren. Und am Anfang stand Jean Monnet, ein ganz außergewöhnlicher Europäer.

Jean Monnet, ein Geschäftsmann, der sich bereits im ersten Weltkrieg beträchtliche Meriten bei der Lenkung der französischen Kriegswirtschaft erworben hatte, scharte im Frühling 1950 in seinem Haus in Houjarray ein Team um sich mit dem Ziel, Europa zu einen. Am 9. Mai 1950 folgte mit dem Einverständnis des Deutschen Kanzlers Konrad Adenauer eine Erklärung des französischen Ex-Premiers und damaligen Finanzministers Robert Schuman im Namen der französischen Regierung. Die Erklärung war von Monnet vorbereitet worden, Kern des Plans war es, die Kohle- und Stahlproduktion von Frankreich und Deutschland unter die Aufsicht einer gemeinsamen Verwaltung zu stellen und anderen europäischen Staaten zu öffnen. Die gemeinsame Verwaltung dieser für die Kriegsführung eminent wichtigen Güter sollte dazu führen, dass beide Staaten - Deutschland und Frankreich - nie wieder Krieg gegeneinander führen können.

Die Schuman-Deklaration steht auch am Anfang des Europäischen Traums: "Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen."

Monnets Methode

Das Ziel Schumans, Monnets und Adenauers war nichts geringeres als der Weltfriede: "Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen."

Und Monnets Methode, durch kleine Schritte eine Dynamik von nachhaltiger Bedeutung zu erzeugen ist bis heute das Handlungsprinzip der europäischen Institutionen. Die Praktiker der Integrationspolitik berufen sich gerne auf die Eröffnungsformel des Schuman-Plans: "Konkret anfangen schafft gemeinsame Interessen". Und auch die Salamitaktik des Integrationsprozesses war schon in Monnets Methode enthalten: Das Ziel sollte in Etappen auf dem Weg zu einer noch wenig ausgeprägten finalité, einem noch wenig definierten Endpunkt erreicht werden. Gewisse Wegmarken sollen gesetzt werden, aber das Endziel des Weges mit mit allgemeinen Begriffen bewußt im Nebel gelassen, analysierte der Politikwissenschafter Wolfgang Wessels in einem Papier für das Wiener Institut für Höhere Studien im Jahr 2001.

Monnets Vision: "Weiter, weiter, für die Bürger Europas gibt es keine andere Zukunft als in einer Union", wiederholte er gebetsmühlenartig.

"Sorge dafür, dass die Menschen zusammenarbeiten und zeige ihnen, dass sie trotz der Differenzen und der geografischen Grenzen gemeinsame Interessen haben."

Die Strategie, ökonomische Instrumente als Mittel der politischen Integration zu nutzen, geht ebenfalls auf Monnet zurück. Konkrete Großprojekte sollten mit institutionellen und prozeduralen Fortschritten Hand in Hand gehen. Doch auch eine Fehlkonstruktion der Union geht auf Monnet zurück: Monnet hatte bei der Ur-Konstruktion Europas im Konsens getroffenen Eliten-Entscheidungen im Sinn.

Die Renaissance des Traums

Parlamente und Citoyens bleiben außen vor, der ganze Prozess ist alles andere als bürgernah. Jean Monnets Memoiren "Erinnerungen eines Europäers" sind auf Deutsch nur antiquarisch verfügbar, der europäische Traum ist in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten oder von den kühl rechnenden radikal-Pragmatikern auf den gemeinsamen Markt reduziert worden. Für nicht wenige Europäer vor allem in Portugal, Irland, Griechenland und Spanien hat sich der europäische Traum nach der Lehman-Pleite 2008 und dem danach um die Erde schwappenden Finanz-Tsunami zum europäischen Alptraum verkehrt.

Der Friedensnobelpreis ist eine Chance für die Bürger der EU, wieder den europäischen Traum zu wagen. Jean Monnets Memoiren, vor einigen Monaten um ein paar Euro verramscht, kosten heute über 30 Euro. Ist es nun wieder Zeit für die großen Fragen? Wie gelingt eine Reform der Institutionen? Wie holt man die Bürger wieder ins europäische Boot? Und wie reformiert man die europäischen Institutionen? Stärkt man das Europa-Parlament? Wandelt man die EU-Kommission zu einer Art Senat nach US-Muster um, oder macht man gleich eine Art europäischer Regierung aus dem Gremium?

Der Nobelpreis erinnert die Bürger und Eliten der Union daran: Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft und der Euro. Europa ist ein Friedensprojekt.