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Ein Retter in der Not - von der Krise bedroht

Von Hermann Sileitsch aus Rom

Politik

Auch nach 20 Jahren bleibt der europäische Binnenmarkt unvollendet.


Rom.

"Binnenmarktwoche": Aus Anlass des 20-Jahr-Jubiläums finden europaweit Feiern und Seminarveranstaltungen statt.
© wz/hes

Seinen Einsatz für den EU-Binnenmarkt bezahlte Frits Bolkestein mit gekappten Stromleitungen: Der Niederländer, damals soeben als EU-Kommissar abgetreten, wollte 2005 seinen umstrittenen Kampf für den grenzüberschreitenden Verkehr von Dienstleistungen verteidigen. Er habe ein Haus in Ramousies, Nordfrankreich, so Bolkestein: "Kämen nur endlich ein paar polnische Installateure und Elektriker, ich könnte sie gut beschäftigen." Sofort brach ein Sturm der Entrüstung los, einige französische Handwerker schritten umgehend zur Tat - und ließen den Holländer im Dunkeln sitzen.

Eine Episode, die viel über die Chancen und Probleme des EU-Binnenmarktes verrät: Einerseits sind nach 20 Jahren die vier Grundfreiheiten - ungehinderte Reisemöglichkeiten für Menschen, Waren, Dienstleistungen und Geld - vielen EU-Bürgern zur Selbstverständlichkeit geworden.

Andererseits sind etliche Hürden noch nicht überwunden. "Dienstleistungen sind bis heute nicht so gut integriert wie der Warenverkehr", sagt Riccardo Perissich, der vor 20 Jahren die Umsetzung des Binnenmarktes begleitet hat: "Sie standen damals zugegeben auch nicht im Zentrum." Die damals noch primär produzierende Wirtschaft hat sich rasant weiterentwickelt - heute sind gerade Dienstleistungen ein Wachstumstreiber.

Man kann das auch positiv sehen: Der Binnenmarkt birgt viel unausgeschöpftes Wachstumspotenzial. So sieht das der zuständige Kommissar Michel Barnier, der ein Bündel an Einzelmaßnahmen vorgeschlagen hat, die den grenzüberschreitenden Wettbewerb, die Mobilität der Menschen und den Handel steigern sollen. Der Franzose wird diese am Montag in Wien vorstellen.

Kosten blockieren Exporte

Aufholbedarf ist fraglos gegeben. "Europa steckt seit Jahren bei 70 Prozent der Produktivität, welche die USA erreichen", gibt Stefano Micossi, Chef der Denkfabrik Assonime in Rom, zu bedenken: "Seltsam, wo wir doch gut ausgebildete Leute haben." Er führt das auf die schiere Größe und Offenheit des US-Marktes zurück.

Laut Schätzungen könnte die EU ihre Wirtschaftsleistung um ganze vier Prozent steigern, wenn die verbliebenen Schranken fielen. Kann man dem Glauben schenken? "Exakte Zahlen sind schwierig zu ermitteln", räumt Micossi ein. Dennoch sollte das Potenzial des gemeinsamen Marktes nicht unterschätzt werden. So könnte mehr Wettbewerb die Energiekosten für Italiens Haushalte um ein Drittel senken. Wäre der Gaspreis völlig unabhängig von den Ölnotierungen, müsste Gas um 15 bis 20 Prozent billiger sein. Das wären Ersparnisse, die den Haushalten und Unternehmen für Anschaffungen und Investitionen zur Verfügung stünden. Im Gasmarkt und bei den Eisenbahnen hinke die Entwicklung besonders hinterher, so Micossi.

In Österreich scheitern kleine und mittlere Unternehmen, die das Rückgrat der Wirtschaft bilden, oft daran, die Vorteile des großen Marktes zu nutzen. So ist es für viele unerschwinglich, Patente anzumelden. Die Kosten betragen für eine EU-weite Anerkennung 36.000 Euro - verglichen mit 2000 Euro in den USA oder 600 Euro in China. Das neue europäische Patent soll 5000 Euro kosten, unter anderem, weil es nur noch in drei Amtssprachen übersetzt werden muss. Just daran ist die Umsetzung aber bisher gescheitert: Italien und Spanien wollten nicht akzeptieren, dass ihre Sprachen unter den Tisch fallen.

Eine große Erleichterung bringt das Europäische Kaufrecht: Bisher muss ein Unternehmen, das Waren über EU-Grenzen hinweg verkaufen will, sich mit den spezifischen Regeln jedes Landes auseinandersetzen - künftig gibt es optional ein einheitliches EU-Regularium. "Das bringt vor allem Vorteile für Kleinstfirmen, die viel einfacher exportieren können", sagt Simona Staikova von der Generaldirektion Verbraucherschutz der EU-Kommission.

Nicht immer stehen Gesetze und Regularien im Weg. Oft sind es kulturelle Hürden oder mangelndes Vertrauen, die grenzüberschreitende Geschäfte verhindern. "Ich weiß, dass Versicherungspolizzen in Großbritannien günstig wären. Aber vertraue ich wirklich darauf, alles richtig zu verstehen und meine Ansprüche durchsetzen zu können?", gibt Micossi zu bedenken. Eine Frage, die sich auch Bolkestein mit seinen polnischen Handwerkern stellen hätte könnte. Brüssel will deshalb die Durchsetzung der Rechte erleichtern: Weil der teure Gerichtsweg oft gemieden wird, gibt es für Verbraucher und Unternehmer das "Solvit"-Netzwerk mit Anlaufstellen in allen EU-Staaten. Dort wird versucht, Ungleichbehandlungen rasch und unbürokratisch auszuräumen.

Binnenmarkt als EU-Basis

Auch wenn die Stärkung des Binnenmarktes als probates Mittel gegen die Rezession gilt - er wird selbst durch die Krise bedroht. "Die Gefahr besteht, dass der Binnenmarkt das erste Opfer dieser Krise und der protektionistischen Reaktionen werden könnte", mahnt EU-Kommissar Barnier.

Gerade die Sorge um Arbeitsplätze verstärkt nämlich nationale Egoismen und lässt Regierungen gerne die Rollbalken runterfahren. Denn so sehr von einer Marktöffnung alle profitieren mögen - diese Vorteile zeigen sich erst auf lange Sicht. Kurzfristig kommt es zur Abwanderung von Arbeitsplätzen, weil neue Jobs dort geschaffen werden, wo Produkte und Dienstleistungen billiger und effizienter angeboten werden. Drastisch zeigt sich dieser Protektionismus, wenn großen Industrieunternehmen in ausländische Hand geraten könnten - dann werden diese sofort als "strategisch wichtig" definiert und quasi unter staatlichen Schutz gestellt, sagt Micossi.

Gefahr droht auch von der gemeinsamen Währung - paradox, denn der Euro hat die Integration des Binnenmarktes in den ersten zehn Jahren seiner Existenz massiv vorangetrieben.

Doch bei jenem engeren Zusammenrücken, das nötig ist, um die Eurokrise zu lösen und die wirtschaftlichen Ungleichgewichte abzubauen, tun sich einige Staaten schwer - allen voran die Briten. Deshalb ziehen sich immer mehr Risse durch ein Europa, das eigentlich zusammenrücken will. Das Europa des Euro ist ein anderes als jenes des Schengenraums für den freien Reiseverkehr. Das Europa des Fiskalpaktes unterscheidet sich von jenem der Bankenunion und dem der Finanztransaktionssteuer.

"Werden wir am Ende noch 27 Länder sein? Ich bin skeptisch", sagt Perissich. Vielleicht wird aber auch die Eurozone als Avantgarde der Integration vorauseilen und der Binnenmarkt entwickelt sich zu einer Schmalspurvariante der EU-Mitgliedschaft. In diese Richtung deutet der italienische Industriekommissar Antonio Tajani: Auf die Frage, wie Europas Integration und die zunehmende Spaltung zusammenpassen, antwortet er: "Ich bin optimistisch. Die Briten sind sehr pragmatisch - sie wissen, welchen Wert die EU und der gemeinsame Markt für sie und ihre Firmen haben."

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