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Die Zeit drängt in Belfast

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

In der protestantischen Bevölkerung klafft ein tiefer sozialer Graben.


London. Fünf Wochen lang lodern nun schon die Flammen des Protests in Belfast. Dutzende von Polizisten sind seit Anfang Dezember verletzt, mehr als tausend Personen verhaftet worden. Inmitten der Brandbomben und Plastikgeschosse haben Geschäftsleute am Mittwoch die ersten schweren Verluste gemeldet. Auswärtige Investoren stellen geplante Investitionen ein.

Der G8-Gipfel, der im Juni in Nordirland stattfinden sollte, muss möglicherweise nach England verlegt werden. Friedfertigen Nordiren steht schon jetzt die Angst ins Gesicht geschrieben, es könne alles wieder rückwärts gehen. Dabei beschränken sich die Unruhen einstweilen noch auf begrenzte Gebiete: hauptsächlich den Norden und Osten Belfasts - ein Aufstand der protestantischen "Underclass".

Darüber, dass die neue katholische Mehrheit im Belfaster Stadtrat die Zahl der Tage begrenzt hat, an denen der Union Jack noch über dem Rathaus wehen darf, hat sich zweifellos der Großteil der Protestanten in der Provinz geärgert. Zu Steinen, Brandsätzen und Laser-Stiften gegriffen hat aber nur eine Minderheit - und zwar der Pulk der jungen, städtischen Loyalisten, denen es an Bildung wie an Jobs, Geld und Zukunftschancen fehlt.

Zwischen ihnen und ihren bessergestellten Glaubensgenossen klafft ein sozialer Graben, wie man ihn im katholischen Lager nicht kennt. Für bürgerliche oder wenigstens politisch bewusste Protestanten ist der Friedensprozess der vergangenen zwei Jahrzehnte zur Voraussetzung für die eigene Zukunft geworden. Der Nachwuchs in den ärmsten Distrikten aber hat keine derartigen Erwartungen: Für die vermummten Buschen, die man jetzt auf den Straßen sieht, bedeutet Kompromiss mit den Katholiken nur steter, schmerzlicher Verlust von Privilegien.

Bei Flaggenstreit nicht an Konsequenzen gedacht

Sehr spät hat sich die Führung der Unionisten in dieser Situation darauf besonnen, dem nächtlichen Irrsinn zu wehren und gegen die Krawalle entschiedener Position zu beziehen - statt mit Sympathien für den "Volkszorn" im Flaggenstreit die Flammen weiter anzufachen. Klar war von Anfang, dass der Stadtratsentscheid zum Einziehen der Flagge von vielen Protestanten als Provokation aufgefasst werden würde. Politisch klug war diese Initiative jedenfalls nicht. Ihre Befürworter hatten sich zu wenig Vorstellungen von den möglichen Folgen ihrer Aktion gemacht.

Nun, da sie ihren Beschluss gefasst haben, können sie aber nur schwer wieder von ihm abrücken. Das käme der Kapitulation vor der Gewalt der Straße gleich. In diesem Sinne birgt die gegenwärtige Krise die größte politische Herausforderung für Nordirland seit Unterzeichnung des Belfaster Friedens-Abkommens von 1998. Denn bisher reagierten die Führungen der Protestanten und der Katholiken auf gelegentliche Konflikte ja immer mit demonstrativem Zusammenrücken. Diesmal hingegen ist wenig an politischer Gemeinsamkeit, an Schulterschluss auf höchster Ebene zu spüren.

Die katholischen Parteien geben sich wortkarg - wohl auch betreten wegen der Folgen ihres Flaggen-Beschlusses. Den Protestanten wiederum ist nur sehr langsam klar geworden, dass sie die Kontrolle über einen Teil ihrer Bevölkerung verloren haben. Zu zaudern, müssen sich inzwischen beide Seiten sagen, bleibt wenig Zeit. Fünf Wochen haben ein politisches Vakuum in Nordirland geschaffen. Nur politischer Wille, nur enge Zusammenarbeit löscht die Feuer von Belfast aus.