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Russland grenzt sich von Europa ab

Von Gerhard Lechner

Politik

Putins Beichtvater Tichon gilt als stramm konservativ und antiwestlich.


Moskau/Wien. Man könnte gut daran vorbeigehen. Fast versteckt liegt das Sretenski-Kloster am Anfang einer belebten Straße in der Moskauer Innenstadt. Das unscheinbare Äußere des Gebäudes lässt nicht vermuten, dass das Kloster das größte Publikationszentrum der Russisch-Orthodoxen Kirche beherbergt. Und mit "pravoslavie.ru" die bekannteste orthodoxe Internetseite des Landes betreibt. Während in den Mönchsklausen am Heiligen Berg Athos gerade erst die Elektrizität Einzug gezogen hat, verwenden die Kleriker des für seinen kraftvollen Chor weit bekannten Klosters wie selbstverständlich iPads. Auch in dem ans Kloster angeschlossenen Devotionalienshop, wo von Ikonen bis zum Tee alles Mögliche verkauft wird, riecht es nach Modernität.

Ein Ruf, der Tichon Schewkunow nicht gerade vorauseilt. Der Archemandrit des Klosters - ein Posten, der dem eines Abtes gleichkommt - gilt trotz seiner relativen Jugend als Hardliner innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche. Den 54-Jährigen verfolgt bereits seit mehr als zehn Jahren ein hartnäckiges Gerücht: Tichon soll der Duchownik, der Beichtvater von Russlands Präsident Wladimir Putin sein. Und der hat sich in letzter Zeit immer stärker der Orthodoxie zugewandt.

Kein Wunder: Schließlich konnte sich Putin zur Zeit der Proteste gegen seine erneute Kandidatur zum Präsidenten vor einem Jahr auf die Unterstützung der Orthodoxen Kirche und ihres Oberhauptes Kirill I. verlassen. Während Zehntausende gegen den Regenten auf die Straße gingen, bezeichnete der Patriarch Russlands Wiederauferstehung unter Putin als "Wunder Gottes" - eine indirekte Wahlempfehlung. Der Präsident bedankte sich nach der Wahl bei seiner Kirche: mit einem scharfen Vorgehen gegen die Künstlerinnengruppe Pussy Riot im Sommer. Und mit strengen Gesetzen gegen "homosexuelle Propaganda", die letzte Woche vom russischen Parlament gebilligt worden waren.

Damit entfernt sich Putins Russland aber immer weiter vom einstigen Modernisierungsvorbild - dem Westen. Ein Umstand, der Archemandrit Tichon nicht stören dürfte. Putins Beichtvater hatte im Jahr 2008 einen Film gedreht, der den Untergang des Byzantinischen Reiches beschreibt - also jenes oströmischen Imperiums, in dessen Nachfolge sich die russischen Zaren sahen. Der Film ist von Melancholie über den Untergang von Byzanz durchzogen - und voller Parallelen zur Gegenwart, voll warnender Stimmen, Russland könne es ähnlich ergehen. Tichon berichtet von den Vorzügen der alten Byzantiner, von der "Harmonie" und "Symphonie" zwischen Kirche und Staat, die der Orthodoxen Kirche bis heute als richtungsweisendes Regierungsmodell vorschwebt. Klagend wird der Archemandrit, wenn er über die Sünden der Griechen berichtet: Die ständige Lust nach Veränderung, eine abbröckelnde "Machtvertikale", geldgierige Oligarchen, Korruption, aber auch nationale Streitigkeiten hätten in dem Vielvölkerreich zum "Selbstmord" geführt - ein Klagelied, das auch von Putin stammen könnte. Eine Ideologie wie geschaffen für Russlands Präsidenten. Immer wieder kommt in dem Film auch ein gewandter, in einen schwarzen Umhang gehüllter Venezianer mit einer seltsamen Maske ins Bild. Der Mann mit der überlangen Lügnernase symbolisiert den Westen und ist hauptsächlich damit beschäftigt, Unheil zu stiften. Anspielungen auf die Gegenwart sind dabei durchaus gewollt. Wenn der zynische Maskenmann nach einer seiner Untaten in eine Orange beißt, weiß jeder, dass damit nur die vom Westen inspirierte und unterstützte Orange Revolution von 2004 in Kiew gemeint sein kann.

Putin im Zwiespalt

Wie viel von Tichon in Putin steckt, ist freilich schwer zu beantworten. Zum einen gibt es da die Geschichte, Putin sei nach einem glimpflich ausgegangenen Brand in seiner Datscha unweit von St. Petersburg im Jahr 1996 ernsthaft gläubig geworden. Zum anderen ist auch bekannt, dass sich Putin ausgerechnet Peter den Großen zum Vorbild genommen hat - also jenen Imperator, der die Kirche wie kein Anderer maßregelte und sich den Westen zum Vorbild nahm, um Russland zu modernisieren.

Die Lust, vom Westen zu lernen, dürfte dem Präsidenten aber ohnehin vergangen sein - wie vielen seiner Landsleute: Als im Sommer die Erregung im Westen über das Pussy-Riot-Urteil am Höhepunkt war, ernteten die Anti-Putin-Aktivistinnen in Russland in erster Linie Kopfschütteln. Rasch kursierten ältere Videos der Künstlerinnen, die sie bei einer Gruppensexaktion in einem Museum zeigten oder beim Versuch, sich in einem Supermarkt ein gestohlenes Suppenhuhn in die Vagina einzuführen. Die Unterstützung für Pussy Riot blieb in Russland daraufhin vergleichsweise gering.