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"Die Häme ist unglaublich groß"

Von Walter Hämmerle

Politik

Occupy, Stuttgart 21, Beppe Grillo - Angriff auf die parlamentarische Politik.


"Wiener Zeitung": Worin unterscheiden sich die Protestbewegungen der Gegenwart - von Stuttgart 21 über Occupy Wall Street bis hin zum lokalen Widerstand gegen Windkraftanlagen - von der Studentenbewegungen Ende der 60er, den Antiatomdemos der 70er oder den Umweltschutzinitiativen der 80er Jahre?Felix Butzlaff: Die heutigen Träger von Protesten sind deutlich älter, so ab Mitte 40, und haben Widerstand gegen die Obrigkeit bereits als völlig normal, ja sogar als positiv erlebt. Sie verfügen, weil sie bereits beruflich und familiär verankert sind, über die notwendige Zeit, solche Proteste zu organisieren. Hinzu kommt, dass durch die gestiegene Bildung der Bürger auch die rhetorische und organisatorische Fähigkeit zum Protest enorm zugenommen hat. Menschen, die nur über einen Hauptschulabschluss verfügen, sind dagegen kaum vertreten; es dominieren Akademiker, vor allem technischer Studien, was sich nicht zuletzt auf deren Zugang zur Lösung von Konflikten auswirkt.

Wie zeigt sich dieser Unterschied?

Techniker, Ingenieure haben auch zu politischen Themen einen naturwissenschaftlichen Zugang: Sie suchen nach einer objektiv besten Lösung, die dann möglichst ohne Abstriche umzusetzen ist. Demgegenüber zielten die Debatten in den Protestbewegungen der 70er und 80er Jahre stärker auf den Kern demokratischer Prozesse, die Protagonisten suchten dann ja auch den Weg in die Parteien. Heute ist das Suchen nach Kompromissen, nach Lösungen durch Parteien, gerade in den neuen Protestgruppen diskreditiert. Es überwiegt die Überzeugung, dass eine Lösung von den Parteien nur verwässert wird - und am Ende kommt gar nichts heraus. Auf der anderen Seite tun sich sehr breite Bewegungen wie etwa Occupy schwer, politische Forderungen zu formulieren. Sobald es hier konkret wird, drohen sie auseinanderzubrechen.

Sie sprechen von der "neuen Macht der Bürger" - worin genau besteht diese angeblich neue Form von Macht? Immerhin entscheiden am Schluss immer noch die Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten. Stuttgart 21 wird wohl gebaut werden, die Proteste der Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche werden eher keine konkreten Änderungen an den Asylgesetzen bringen, Occupy ist längst versandet . . .

Ich glaube, dass es legitim ist, von einer "neuen Macht der Bürger" zu sprechen; allerdings ist dies keine uneingeschränkt positive Entwicklung. Die Proteste gegen den Bahnhofsbau in Stuttgart haben den steigenden Druck auf die Politik gezeigt, die Meinung der Bürger zu berücksichtigen. Parteien finden sich heute in einer unangenehmen Zwischenfunktion wieder, wo sie Druck von zwei Seiten spüren: Die Wirtschaft drängt auf rasche, effiziente Entscheidungen, und die Bürger wollen gehört und miteinbezogen zu werden. Beides gleichzeitig geht eigentlich nicht.

Das ist aber nicht wirklich neu, das Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Repräsentativität gehört zur inneren Logik unseres demokratischen Systems.

Das stimmt, nur ist heute die Zerreißprobe, vor der die repräsentative Politik steht, ungleich größer. Die Parteien reagieren darauf, indem sie auf der einen Seite verstärkt auf Experten als Berater setzen und gleichzeitig versuchen, den Bürger mit symbolischen Gesten das Gefühl zu geben, mitreden zu können. All dies ändert die Art und Weise, wie heute Politik gemacht wird - allerdings nicht ausschließlich zum Besseren.

Was soll daran negativ sein, wenn sich die Bürger stärkere Mitsprache erkämpfen wollen?

Weil im Gegenzug die Politik versucht, parlamentarische Abläufe so schnell und so effizient wie möglich abzuwickeln. Aus Demokratie wird so ein bloßes Demokratiespiel. Gleichzeitig verwenden Parteien und Politiker einen zunehmend größeren Teil ihrer Anstrengungen, partizipative Politik nur zu simulieren, weil die traditionelle Form der Politikvermittlung durch die großen Volksparteien nicht mehr funktioniert. Die Bindung zur Basis ist verloren gegangen, Vorfeld- und Teilorganisationen erreichen einen immer geringeren Teil der Bevölkerung.

In Österreich gilt direkte Demokratie als ein Rezept, das Verhältnis Politik/Bürger ins Lot zu bringen.

Die Beschränkung der Mitbestimmung auf eine einmalige Stimmabgabe alle vier oder fünf Jahre genügt sicher nicht mehr, hier braucht es andere und zusätzliche Möglichkeiten. Aber auch mehr direkte Demokratie ist keine Lösung für das Problem, dass die sozial Schwachen sich von der Politik abgekoppelt haben; stattdessen wird so der Einfluss jener noch weiter gestärkt, deren Stimme ohnehin gehört wird, nämlich der Gebildeten und Wohlhabenden. Und auch direkte Demokratie ist gefährdet, genau von jenen finanzstarken Lobbyinggruppen gekapert zu werden, denen man jetzt schon vorwirft, dass sie die Politik bestimmen. Schließlich sind Gesellschaften, die sich über vermehrte Mitbestimmung politisieren keineswegs per se libertärer, humanitärer oder demokratischer. Das ist eine der Lektionen der Geschichte Deutschlands und Österreichs.

Seitdem sind allerdings siebzig Jahre vergangen. Wäre es nicht Zeit, den Bürgern ein gewisses Grundvertrauen entgegenzubringen?Natürlich liegen Welten zwischen unserer Gegenwart und der Zwischenkriegszeit. Und dennoch belegen Untersuchungen, dass das Idealbild eines vertrauenswürdigen Politikers einer Mischung aus einem Experten und einem autoritären Machtmenschen der Marke Josef Strauß entspricht. Dahinter steckt die Hoffnung, dass eine sachgerechte Lösung möglichst unverwässert von Kompromissen durchgesetzt wird. Die Häme gegenüber Vermittlungsinstitutionen der Demokratie wie den Parteien und den Parlamenten ist unglaublich groß.

Woher kommt diese Häme ?Man hat das Gefühl, dass Vermittlung in einer zunehmend komplizierter gewordenen Welt immer schwieriger wird; und Lösungen zu verwaschenen Kompromissen zerredet werden. All das gibt es tatsächlich, aber die divergierenden Interessen verschiedener Gruppen sind eben ebenfalls eine Tatsache.

In Italien hat der Komiker Beppe Grillo mit seiner Protestpartei 25 Prozent der Stimmen erobert . . .

Grillo ist Ausdruck einer Sehnsucht nach Authentizität und Ehrlichkeit, nach neuen Leuten in der Politik, die nicht mit den alten Machtstrukturen verbunden sind. Und auch hier schlägt das Misstrauen gegen politische Prozesse durch, die zwangsläufig mit Kompromissen enden.

Wenn man Ihre These zu Ende denkt, dann wäre das übergeordnete Ziel von Politik und Parteien, das "Tier im Bürger", seine tief verwurzelte undemokratische Tendenz, unter Kontrolle zu halten.

Nein, es ist vielmehr so, dass die Idealvorstellungen der Bürger einander widersprechen. Einerseits gibt es den Wunsch nach verstärkter Mitsprache und andererseits die Sehnsucht, ideale Lösungen unverwässert umzusetzen. Beides gleichzeitig ist aber unmöglich.

Dennoch gibt es einen augenfälligen Unterschied im Bezug auf den Stellenwert des Bürgers im Vergleich zum angelsächsischen Raum. Dabei ist der durchschnittliche US-Bürger kaum weniger anfällig für autoritäre Tendenzen als Österreicher oder Deutsche.

Das stimmt, aber in Mitteleuropa haben wir erleben müssen, welche katastrophalen Folgen hierin liegen, das prägt Politik bis heute. Hinzu kommt, dass das Misstrauen durchaus auf Gegenseitigkeit beruht: Es misstrauen ja nicht nur die Politiker den Bürgern, sondern umgekehrt genauso. Das wiederum hat viel mit dem höheren Bildungsniveau zu tun: Die allgegenwärtigen Spezialisten trauen den Generalisten in Detailfragen nichts mehr zu. Das führt auf Bürgerseite zu noch vehementeren Forderungen nach Mitbestimmung und auf Politikerseite zum Versuch, diesen Druck durch weitgehend symbolische Ersatzhandlungen abzufangen.

Wie könnte eine Lösung für dieses Dilemma aussehen?

Empirische Untersuchungen zeigen, dass solche symbolhaften Angebote zur Mitwirkung selten angenommen werden. Es braucht Verbindlichkeit, damit die Leute mitmachen. Das führt zu einer Teilentmachtung der Politik. Zum anderen brauchen die Parteien wieder Strukturen, die in die Bevölkerung hineinreichen und mit deren Hilfe sie das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen.


Felix Butzlaff, geboren 1981 in Celle, forscht am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen; Co-Herausgeber (u.a. Franz Walter) von "Die neue Macht der Bürger", Rowohlt 2013. Schwerpunkte sind neue Formen politischer Partizipation sowie Geschichte und Entwicklung der Sozialdemokratie. Butzlaff weilte auf Einladung des Bruno-Kreisky-Forums in Wien.