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Anti-Zionist als moralische Instanz

Von Edwin Baumgartner

Politik

Stéphane Hessel war wiederholt mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert.


Berlin. Der französisch-deutsche Résistance-Kämpfer, KZ-Überlebende, Essayist und Diplomat Stéphane Hessel, bekannt durch seinen Essay "Empört euch!", in dem er zum Widerstand gegen Entwicklungen der Politik und gegen den Kapitalismus aufruft, ist in der Nacht auf Mittwoch in seiner Geburtsstadt Berlin gestorben.

Die Mutter des am 20. Oktober 1917 geborenen Hessel ist Journalistin, der Vater Franz Hessel ein vielgelesener Schriftsteller. 1924 zieht die Familie nach Paris, 1937 erhält Stephan Hessel die französische Staatsbürgerschaft und wird zu Stéphane Hessel.

Während des Zweiten Weltkriegs schließt sich Hessel der Résistance an. 1944 wird er von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Dort rettet den wegen Spionage zum Tod verurteilten der Kapo Arthur Dietzsch, indem er ihm eine falsche Identität verschafft. Hessel wird nach Mittelbau-Dora überstellt, von dort soll er ins KZ Bergen-Belsen verbracht werden. Auf der Zugfahrt gelingt ihm die Flucht.

Im Namen des Menschenrechts

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beginnt Hessels Diplomatenlaufbahn: 1946 wird er Büroleiter des Vize-UN-Generalsekretärs Henri Laugier, 1948 Sekretär der neu geschaffenen UN-Menschenrechtskommission. Anschließend vermittelt er im Auftrag der UNO in Konflikten zwischen Staaten und Nationen.

1962 gründet Hessel in Frankreich die Association de formation des travailleurs africains et malgaches (Vereinigung zur Ausbildung von afrikanischen und madagassischen Arbeitnehmern), die sich für die Rechte von Afrikanern einsetzt. Außerdem wird er Mitglied der französischen Sektion der Nationalen Menschenrechtskommission. Vom französischen Staat erhält er den Titel "Ambassadeur de France".

Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 gründet Hessel das "Collegium international" zur Verhinderung eines Kriegs zwischen den Zivilisationen. Dabei fällt zum ersten Mal eine dezidiert israelkritische Einstellung Hessels auf, als er von Israel eine andere Politik in der Palästinenser-Frage verlangt und sich der Forderung nach einem Boykott israelischer Produkte anschließt.

2010 wird sein als Buch erschienener Essay "Indignez-vous!" ("Empört euch!") zum Bestseller. Mehrere soziale Protestbewegungen, etwa in Spanien, Portugal und Griechenland, berufen sich auf seine Thesen. Auch die Occupy-Bewegung, die von September bis Mitte November 2011 den New Yorker Zuccotti Park besetzt hält, erklärt Hessel zu ihrem geistigen Führer. Anderseits werden erstmals Stimmen laut, dass Hessel Kritik an Israel überzogen sei, und mehrere Kritiker fragen sich, wie der von Hessel propagierte "friedliche Aufstand" konkret aussehen könne.

Hessel gilt vor allem in Frankreich längst als unhinterfragbare moralische Instanz, als er mit einem Interview, das am 20. Januar 2011 in der "FAZ" erscheint, Wellen der Empörung entfesselt. Er sagt: "Die durchlässige deutsche Besatzungspolitik gestattete noch am Ende des Krieges eine offene Kulturpolitik. Man durfte in Paris Stücke von Jean-Paul Sartre aufführen oder Juliette Gréco hören. Wenn ich einen kühnen Vergleich als Betroffener wagen darf, so behaupte ich: Die deutsche Besatzung war, wenn man sie vergleicht zum Beispiel mit der heutigen Besetzung von Palästina durch die Israelis, eine relativ harmlose, von Ausnahmen abgesehen wie den Verhaftungen, Internierungen und Erschießungen, auch vom Raub der Kunstschätze. Das war alles schrecklich. Aber es handelte sich um eine Besatzungspolitik, die positiv wirken wollte und deshalb uns Widerstandskämpfern die Arbeit so schwer machte."

Im Kreuzfeuer der Kritik

Dass Hessel angesichts von rund 13.000 allein am 16. und 17. Juli 1943 in Paris festgenommenen, nach Auschwitz verschleppten und dort zumeist ermordeten Juden von einer im Vergleich zum Vorgehen Israels "harmlosen" Besatzung spricht, weil man Stücke von Sartre sehen und Chansons von Juliette Gréco hören konnte, empfinden Kommentatoren als teilweise geradezu unerträglich.

Der französische Politologe Pierre-André Taguieff bezeichnet Hessel als "giftige Schlange", die deutsche Journalistin Gudrun Eussner nennt ihn in ihrem Internet-Blog "Lügenbaron", die Web-Seite "Legal Crime" bezeichnet ihn als "ganz normalen Antisemiten", nachdem er in einem Interview für den ORF Verständnis gezeigt hat, wenn Palästinenser "aus Wut" auf Israelis schießen. Im Jänner 2011 wird in Paris auf Bitte des Zentralrats der Juden eine Veranstaltung mit Hessel auf ministerielle Anordnung abgesagt.

In einem Interview mit der israelischen Zeitung "Haaretz" sagt Hessel, er sei nie ein "guter Jude" gewesen: Seine Mutter sei keine Jüdin gewesen, sein Vater christlich getauft und ohne Beziehung zum Judentum. In einem Interview mit der Schweizer "Wochenzeitung" meint Hessel zu den Antisemitismus-Vorwürfen: "Wenn man also sagt, Israel hat ein Kriegsverbrechen begangen, sagt niemand: Der hat recht. Sondern man sagt: Der ist ein Antisemit."

Seine Aussagen über die "harmlose" Besatzung Frankreichs durch das nationalsozialistische Deutschland relativiert Hessel ansatzweise im "Nouvel Observateur", freilich ohne auf die Opfer einzugehen, die aufgrund ihrer Ermordung in den KZs keine Möglichkeit hatten, Juliette Gréco zu lauschen: Er habe seine Worte "zu schnell geschrieben", und der Nationalsozialismus sei "die Ikone des universellen Bösen".

Der Hintergrund für Hessels Aussagen war indessen nie gezielte Verletzung, sondern, im Gegenteil, der Versuch, eine Verständigung herbeizuführen. Auch wenn die Mittel und Worte bisweilen fehlgeleitet waren - allein wegen der Intention wird Stéphane Hessels Stimme fehlen.

In memoriam Stéphane Hessel wiederholt Ö1 (ORF Radio) am Donnerstag, den 28. Februar um 21.00 Uhr, ein von Michael Kerbler geführtes "Im Gespräch" aus dem Jahr 2011.