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Die Mauer muss weg. Im Ernst?

Von WZ-Korrespondentin Christine Zeiner

Politik

Seit Wochen tobt in Berlin ein Streit um den Erhalt eines mit Graffiti reich verzierten Mauerstücks.


Berlin. Die Mauer wird abgerissen! In Windeseile ging die Geschichte um die Welt: Berlin zerstört die East Side Gallery! Auf dem früheren Todesstreifen soll ein 14-stöckiges Luxuswohnhaus gebaut werden! Seit Wochen wird in der Stadt protestiert. David Hasselhoff, um den es ruhig geworden war, ist eigens nach Berlin geflogen, um die Demonstranten zu unterstützen, wie er sagte. Zu Silvester 1989 hatte er "Looking for Freedom" an der Mauer gesungen. Jetzt sprach Hasselhoff in einer Pressekonferenz vom "letzten Platz, an dem sich die Menschen an die Geschehnisse in der DDR erinnern" könnten. "Dieses letzte Stück Mauer sollte wirklich unantastbar sein."

Doch mit Hasselhoff ist es ein wenig durchgegangen. Der 1,3 Kilometer lange Abschnitt an der Spree ist nicht das letzte Stück Mauer. Schon gar nicht handelt es sich dabei um den letzten DDR-Erinnerungsort. Auch wird die Mauer nicht abgerissen - es werden an zwei Stellen insgesamt 20 Meter herausgenommen und am Ende angefügt, nicht nur für das Haus, sondern auch für eine Fußgängerbrücke. Das Denkmalamt stimmte dem zu.

Es geht um den Nutzender Stadtentwicklung

Die Frage nach dem Umgang mit der Geschichte bleibt aber. Und die Aufregung ist damit allein nicht erklärt. Vielmehr vermischen sich beim Streit über die East-Side-Gallery mehrere Themen. Es geht um Stadtentwicklung, um Fragen wie: Welche Häuser sollen gebaut werden und für wen? Wie viel Freifläche soll es geben? Wer darf wie stark mitreden? Fragen wie diese bieten schon unter normalen Umständen genügend Konfliktstoff - und noch viel mehr, wenn es sich um ein Areal handelt wie jenes, auf dem sich auch die East Side Gallery befindet.

Mehr als 100 Künstler begannen im Frühling 1990 damit, die Mauer auf der Ostseite zu bemalen. Was in der DDR unmöglich gewesen war, ging jetzt. Auf der Westseite der Mauer waren Graffiti gesprüht, DDR-Bürger hingegen kamen üblicherweise nicht einmal annähernd an die Mauer heran.

Das System, das sie an der Flucht hindern sollte, war ausgeklügelt - mit Panzersperren, Signaltechnik, Postentürmen, Hundelaufanlagen, Kontrollstreifen. Ein gutes Stück von der East-Side-Gallery entfernt, an der Bernauer Straße, ist die Grenzanlage des DDR-Regimes seit wenigen Jahren ausgezeichnet dokumentiert. Neben Mauerstücken sind die Abschnitte des Todesstreifens zu sehen, Informationstafeln, Hördokumente und ein Einführungsfilm im Besucherzentrum erläutern Geschichte.

Für die East Side Gallery malt Dmitri Wrubel im Juni 2009 seinen "Bruderkuss" noch einmal, Honecker und Breschnew in inniger Umarmung. Dutzende Schaulustige sind gekommen und beobachten den Moskauer dabei, wie er - schwarzes Sakko, schwarzer Hut - auf einem kleinen Gerüst steht und pinselt. Seit Herbst 1990 ist die Open-Air-Galerie im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg eröffnet, kurze Zeit später stand sie unter Denkmalschutz. Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls werden die Bilder saniert. Die Sonne scheint, die Strandbars haben geöffnet, am Ufer stehen Liegestühle. In der Spree fahren Schiffe vorbei. Wenn die Sonne nicht scheint, kann es hier zwischen der Oberbaumbrücke und der S- und U-Bahn-Haltestelle Jannowitzbrücke indes ganz schön trist sein. Der Wind pfeift, an der breiten Mühlenstraße, die später Holzmarktstraße heißt, zischen die Autos vorbei - man geht und geht an der Mauer und an Brachen entlang, ohne dass man vielen Menschen begegnet.

Ground Zero derBerliner Clubszene

Was macht man mit diesem Stück Stadt, mit den ungenutzten Flächen? Die Antwort Berlins nach der Wende kennt man heute unter dem Begriff "Media Spree": Auf dem knapp vier Kilometer umfassenden Gebiet sollten sich vorwiegend Medienunternehmen ansiedeln und - so die Vorstellung - Jobs und Geld bringen, ein neues Image schaffen. Das geplante Hochhaus mit den schicken Eigentumswohnungen ist nicht das einzige Projekt am Ufer. In einem früheren Eierkühlhaus hat seit 2002 die Plattenfirma Universal ihre Deutschlandzentrale. In die neu geschaffenen "Treptowers" ist das Versicherungsunternehmen Allianz gezogen. Die Investoren-Pläne gingen einmal mehr, einmal weniger schnell voran. Und auf etlichen Flecken geschah, wofür Berlin berühmt ist: die Zwischennutzung. Es öffneten Clubs wie "Ostgut", "Maria" oder "Bar 25" - und mussten wieder geschlossen werden. Dort, wo früher das "Ostgut" war, steht heute die gewaltige Multifunktionshalle "O2-World".

Verliert Berlin immer mehr kreative Räume?

Im Sommer 2008 stimmt ein Großteil der Bewohner von Friedrichshain-Kreuzberg in einem Bürgerbegehren gegen die Bebauungspläne. Und man fordert unter den Schlagwörtern "Media Spree versenken" und "Spreeufer für alle" eine 50 Meter breite öffentliche Uferzone. Dem Vorhaben, die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Brommybrücke wieder aufzugebauen, wurde zugestimmt. Vom grünen Bezirksbürgermeister heißt es, man habe die meisten Grundstücke gekauft - man wolle lieber Grünflächen als Bebauung, anders als die Stadtverwaltung.

An einem Abend im Frühjahr findet im "Radialsystem V - Space for Arts and Ideas", einem einstigen Abwasserpumpwerk, die Dialogveranstaltung "Forum Stadtspree" statt. Politiker, Club-Betreiber, Vertreter von Hochschulen, dem Deutschen Architekturzentrum, vom Wasser- und Schifffahrtsamt, vom Naturschutzbund, von Bürgervereinen, Jugendeinrichtungen und Immobiliengesellschaften sitzen zusammen, tragen Argumente vor, hören einander zu. Es geht um die Fragen, was gut ist für die Stadt und für das Gebiet. Wie soll es hier aussehen, wohin will man? Dabei wird nicht nur über das große Ganze gesprochen, sondern auch über Aspekte wie laute Musik, die über das Wasser an mögliche Wohnungen herangetragen würde.

Berlin verliere immer mehr kreative Räume, sagt etwa der Radialsystem-Geschäftsführer Jochen Sandig. Das Areal solle "das neue Kulturforum von unten werden. Hochkultur, Clubkultur, Subkultur werden zusammenwachsen." Ein Leben "miteinander" verkörpert für Sandig genossenschaftliches, generationenübergreifendes Wohnen, öffentlicheParks, Clubs, Orte für die Gründerszene. Die Betreiber der "Bar 25" haben so etwas vor: Unter dem Namen "Holzmarkt" wollen sie auf dem früheren "Bar 25"-Gelände eine Art "Kultur-Dorf" zu errichten, mit Werkstätten, Läden, Wohnräumen, Kindergarten. Im Bieterverfahren des Gelände-Eigentümers, der Berliner Stadtreinigung, hatten sie sich im vergangenen Jahr durchgesetzt.

Das Hochhaus-Projekt des Investors Maik Uwe Hinkel sieht Sandig als ein Beispiel für ein Leben "nebeneinander" an. Jürgen Scheunemann, der Vertreter von Investor Hinkel, sagt, dass es sich bei den eigenen Plänen nicht um "Luxuswohnungen" handle. Zwei Drittel der 36 Wohnungen seien bereits verkauft - und die Käufer hätten die Lage mitgekauft. Auf ein anderes Grundstück auszuweichen, sei deshalb nicht möglich.

Ob auf dem Todesstreifen "getanzt und gesoffen oder gewohnt" werde, mache auch schon keinen großen Unterschied mehr, schrieb ein Leser an die "Berliner Zeitung". Fehlt es an Ehrfurcht, an Respekt, am "richtigen Gedenken", wenn man am Ufer liegt oder laut Musik hört?

"Das würde ich nicht so sehen", sagt Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Herausgeber des Sammelbandes "Erinnerungsorte der DDR". "Ich finde, man sollte offen sein für verschiedene Arten des Umgangs mit Denkmälern und historischen Zeugnissen, ohne die Last des Gedenkens, das sich wie ein Panzer um uns legt."

Ein "richtiges Gedenken" gibt es laut Sabrow ohnehin nicht. "Raum und Zeugnis sollen erhalten bleiben, aber der Inhalt, die Form der Aneignung, nicht vorgeschrieben werden. Als Historiker würde ich sagen: Lasst uns den Stein des Anstoßes da, ohne Teile herauszunehmen." Ob der Bau eines Luxuswohnhauses auf dem früheren Todesstreifen eine gute Idee ist, daran hat Sabrow seine Zweifel.