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Im Schatten von Prozesspannen

Von Alexander Dworzak

Politik
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NSU ermordete zehn Personen, Angeklagte Zschäpe ist voll schuldfähig.


München/Wien. 600 Aktenordner umfasst der Papierberg, durch den sich die Staatsanwaltschaft gearbeitet hat, alleine die Anklageschrift ist fast 500 Seiten stark. Die Mittäterschaft bei zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 bewaffneten Raubüberfällen, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie versuchter Mord und besonders schwere Brandstiftung werden der Hauptangeklagten Beate Zschäpe zur Last gelegt. Sie gilt als einzige Überlebende aus der Kerngruppe des "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU).

Nicht die Monstrosität der Verbrechen beherrschte in den vergangenen Wochen die Berichterstattung über das politisch brisanteste Verfahren seit der Anklage gegen Mitglieder der linksextremen RAF in den 1970ern. Viel mehr ging es darum, wer und warum dem Prozess als Berichterstatter beiwohnt; juristische Raffinessen, mangelnde Sensibilität seitens des Gerichts und gekränkte journalistische Eitelkeiten traten in den Vordergrund.

Doch in Gerichtssaal Nummer A 101 des schmucklosen Neubaus an der Münchner Nymphenburger Straße 16 geht es ab Montag darum, wie Neonazis unentdeckt Verbrechen begangen - und der Rechtsstaat dermaßen versagen konnte. Zehn Morde in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2007 gehen laut den Ermittlern auf den NSU zurück. Mit 15 Banküberfällen im Osten des Landes hielten sich die Täter finanziell über Wasser. Sie mordeten im gesamten Land, erschossen etwa einen Blumenhändler im fränkischen Nürnberg, einen Gemüsehändler in München oder den Betreiber eines Internet-Cafés im hessischen Kassel jeweils aus kurzer Distanz. Acht der Opfer waren türkischstämmige Migranten, ein griechischer Einwanderer und eine Polizistin zählten ebenfalls zu den Todesopfern.

Verhöhnung der Opfer

Warum jene Personen sterben mussten, können zwei der drei Mitglieder aus dem inneren Kreis des NSU nicht mehr beantworten: Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, welche die Morde verübten, begangen nach ihrer Enttarnung im November 2011 Selbstmord. Zschäpe stellte sich der Polizei - und schweigt seitdem beharrlich. Die 38-Jährige gilt als gleichberechtigtes Mitglied in der Gruppierung. Ihr oblag die Logistik, sie verwaltete das Geld, beschaffte eine Waffe, mietete Fahrzeuge an und archivierte Artikel über die Terroristen. Nachdem sich Mundlos und Böhnhardt erschossen hatten, setzte Zschäpe deren gemeinsame Wohnung in Brand und versandte zynische Bekennervideos. Opfer wurden in Gestalt des rosaroten Paulchen Panther verhöhnt, in einer Sequenz gar als "Heute Aktion Dönerspieß" tituliert - wofür sich Kanzlerin Angela Merkel höchstpersönlich entschuldigte.

Als "Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz ’Taten statt Worte‘" sah sich der NSU. Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, alle in den 1970ern geboren, lernten einander nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" im Osten Deutschlands kennen. Sie waren den Behörden bestens bekannt, konnten aber 1998 untertauchen.

Blamabler Verfassungsschutz

Die Mordserie des NSU ist untrennbar mit den Pannen von Polizei und Verfassungsschutz verbunden. Lange verfolgte man falsche Spuren und ging von Kriminalität unter Migranten aus, die in dem medial verbreiteten Unwort "Döner-Morde" gipfelten. Landesdienste vernichteten Akten, die Verbindungen zum Terrornetzwerk möglicherweise aufgezeigt hätten. Gleich mehrere Spitzenbeamte mussten daher den Hut nehmen; der Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, sowie die obersten Verfassungshüter von Berlin, Sachsen und Thüringen. Kritisch hinterfragt werden seit Auffliegen des NSU auch die staatlichen Geldflüsse für Informanten, sogenannte V-Leute, aus der rechtsextremen Szene. Die Grünen fordern - nach heftiger parteiinterner Debatte - in ihrem Programm für die Bundestagswahl im September gar die Abschaffung der V-Leute für geheimdienstliche Arbeit innerhalb Deutschlands.

Im Zentrum der Kritik steht aber das Münchner Gericht um Manfred Götzl (siehe Porträt). Seiner ungeschickten Kommunikationspolitik bei der Vergabe um die Plätze für Journalisten verdankte der Prozess einen zweiwöchigen Aufschub. Auch der zweite Anlauf überzeugt nicht: Zwar gibt es für Medien aus der Türkei und Griechenland ein fixes Kontingent, der Rest der 50 Plätze wurde aber per Los vergeben. Kuriosum: Die Illustrierte "Brigitte" hatte Glück, alle überregionalen Tageszeitungen gingen leer aus. Die Umstände seien "einigermaßen beschämend", raunte Ex-Kanzler Helmut Schmidt nun ob der Vergabe der Presseplätze. Zu allem Überfluss dringen mittlerweile auch Prozessakten an die Öffentlichkeit; voll schuldfähig sei die mutmaßliche Terroristin Zschäpe, urteilt der Psychiater Henning Saß vom Universitätsklinikum Aachen in einem Gutachten. Nachdem Zschäpe jede Aussage verweigert, fertigte er das forensisch-psychiatrische Gutachten ausschließlich auf Basis von Akten ein.

Das Schweigen der Angeklagten werde auch vor Gericht anhalten, lassen Zschäpes Anwälte durchblicken. Neben ihr müssen sich vier weitere Personen wegen Beihilfe zum Mord und Unterstützung des NSU vor Gericht verantworten. Mit einem schnellen Urteil ist nicht zu rechnen: Für die Befragung von hunderten Zeugen und der Sachverständigen sind zwei Jahre eingeplant.