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Die getwitterte Revolution

Von Gerd Höhler

Politik

Polizei geht mit Haftbefehlen gegen türkische Internet-Aktivisten vor.


Istanbul. (n-ost) Zu den derzeit am fleißigsten in der Türkei über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreiteten Zeichenketten gehört der Hashtag "#resistanbul", eine Kombination aus resist (sich widersetzen) und Istanbul. Wie schon im Arabischen Frühling, ist jetzt auch für die hunderttausenden Demonstranten, die in den türkischen Städten gegen die islamisch-konservative Regierung demonstrieren, das Internet das wichtigste Kommunikationsmittel. Über soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook tauschen die Protestteilnehmer Nachrichten, Aufrufe und Videos aus.

Die Regierung reagiert allerdings auch hier mit ähnlicher Härte wie bei den Polizeieinsätzen gegen die Demonstranten: In der westtürkischen Hafenstadt Izmir habe die Justiz Haftbefehle gegen 38 Personen erlassen, die in sozialen Medien zum "Aufstand" aufgerufen oder "Propaganda" verbreitet haben sollen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. 25 Beschuldigte seien bereits festgenommen worden, nach weiteren 13 suchte die Polizei noch.

Welche Bedeutung das Internet für die Protestbewegung hat, scheint auch Premier Recep Tayyip Erdogan nicht entgangen zu sein. Twitter, erklärte der 59-Jährige am vergangenen Sonntag, sei eine "Plage". Dort würden "die größten Lügen verbreitet". Überhaupt seien die sozialen Netzwerke "die schlimmste Bedrohung", sagte der Premier. Nichts als diese Äußerung zeigt deutlicher, wie weit Erdogan inzwischen offenbar der Realität in seinem Land und insbesondere der Lebenswirklichkeit der jungen Türken entrückt ist.

Proteste flauen nicht ab

Ironischerweise unterhält Erdogan selbst zwei Twitter-Konten, eines auf Türkisch mit 2,7 Millionen Followern und eines auf Arabisch (314.000 Follower). Auch auf Facebook ist Erdogan vertreten. Dort werden freilich nur staatstragende Parolen und vorteilhafte Bilder des Premiers verbreitet.

Mit der freien Meinungsäußerung im Internet steht die Regierung hingegen schon lange auf Kriegsfuß. In den vergangenen Jahren ließen die staatlichen Aufsichtsbehörden zeitweilig mehr als 5000 "schädliche" Internetseiten sperren, darunter das Videoportal YouTube. Und schon unmittelbar nachdem ein erster brutaler Polizeieinsatz gegen ein Zeltlager von etwa 50 Umweltschützern im Istanbuler Gezi-Park die Proteste aufflammen ließ, habe die Polizei mit mobilen Störsendern, so genannten "Jammern", das Mobilfunknetz in der Umgebung des Taksim-Platzes lahmzulegen versucht, berichten Augenzeugen.

Die Kommunikation über die sozialen Netzwerke ist jetzt für die Demonstranten deshalb besonders wichtig, weil sie sich von vielen Medien ignoriert fühlen. Tatsächlich zeigt nicht nur das Staatsfernsehen TRT bei Berichten über die Proteste allergrößte Zurückhaltung. Erdogans starker Arm scheint auch in die privaten Medienkonzerne hineinzureichen. "Diese Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen, sie wird getwittert", steht dementsprechend auch auf einer Hauswand in Istanbul zu lesen.

Ein rasches Ende der Proteste scheint derzeit jedenfalls noch nicht in Sicht. Auch nach einem Gespräch mit Vizepremier Bülent Arinc, der sich am Dienstag bei den Opfern des Polizeieinsatzes entschuldigt hatte, kündigte eine der führenden Initiativen, die Taksim-Plattform, an, ihren Kampf fortsetzen zu wollen. Sie fordert unter anderem den Erhalt des Gezi-Parks, die Entlassung der Verantwortlichen für die brutalen Polizeieinsätze, das Verbot des Einsatzes von Pfefferspray und die Freilassung aller inhaftierten Demonstranten. Laut dem Ärzteverband TTB wurden bei den Demonstrationen bisher 4100 Menschen verletzt, 43 von ihnen schwer. Nachdem bereits an den Vortagen zwei Demonstranten ums Leben gekommen waren, erlag gestern ein dritter junger Mann seinen Verletzungen.