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Zerrissenes Land sucht sich selbst

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik
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Stumm und für Stunden bewegungslos protestieren Erdogan-Gegner gegen die Regierungspolitik.
© reu

Politologin: Stopp der EU-Gespräche nützt weder Ankara noch Brüssel.


Brüssel.Entsetzt und besorgt, erschrocken und empört: Voller Tadel und Mahnungen sind die Reaktionen europäischer Politiker auf die Geschehnisse in der Türkei. Die Niederschlagung der Proteste, die sich an einem städtebaulichen Plan entzündet und dann politische Ausmaße angenommen haben, nehmen dabei so einige zum Anlass, ihre Ablehnung eines türkischen EU-Beitritts abermals zu betonen. Denn einmal mehr rückt die mögliche Mitgliedschaft des Landes in den Fokus der Aufmerksamkeit - auch wenn die Verhandlungen darüber seit Jahren stillstehen.

Dabei hätte sich das schon in der kommenden Woche ändern sollen. Irland drängte darauf, ein neues Verhandlungskapitel zu eröffnen, noch bevor es den EU-Vorsitz an Litauen übergibt. Bereitschaft dazu hatte in den Monaten zuvor auch Deutschland signalisiert, das - wie Österreich - sich ansonsten in Zurückhaltung gegenüber der Beitrittskandidatin Türkei übt. Nach dem Machtwechsel im Präsidentenamt zeigte sich ebenfalls Paris gesprächsbereit. Frankreich blockiert gemeinsam mit Zypern einige Verhandlungsbereiche. Diese behandeln 35 Themengebiete; erst ein einziges ist bis jetzt abgeschlossen.

Ob es den Iren gelingt, das Kapitel zur Regionalpolitik zu eröffnen, ist nun fraglich. Zwar geht es etwa um die Verteilung von EU-Fördermitteln und weniger um politisch brisante Forderungen wie den Abzug türkischer Truppen aus Zypern - trotzdem kreist die Debatte um andere Themen.

Es gehe um die Freiheit der Demonstration und der Meinungsäußerung, und was derzeit in der Türkei passiere, entspreche nicht den europäischen Vorstellungen, befand etwa die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Für den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer sind die Ereignisse sowieso schlicht ein Argument mehr gegen einen EU-Beitritt des Landes.

Auch in Wien gibt es Stimmen dafür, die Gespräche mit Ankara weiter eingefroren zu lassen. Außenminister Michael Spindelegger sieht derzeit "keine Möglichkeit, die Verhandlungen zu entblockieren". Zusammen mit Bundeskanzler Werner Faymann forderte er "klare Worte" von der EU. Die EU-Kommission hat aber nur beschränkte Möglichkeiten, wenn die Mitgliedstaaten den Dialog nicht weiterführen wollen.

Dabei nützt der Stillstand in den Verhandlungen weder der Türkei noch der EU, findet Sabiha Senyücel Gündogar von der Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien (Tesev) in Istanbul. "Und zu sagen, die Türkei gehöre nicht in die EU, schürt hier nur das Gefühl, diskriminiert und unfair behandelt zu werden." Das Ringen um eine EU-Annäherung des Landes währt nämlich bereits seit Jahrzehnten, und die Skepsis etlicher Westeuropäer ist den Türken durchaus bekannt.

"Europäer verstehen nicht"

Senyücel Gündogar würde sich mehr Entgegenkommen wünschen. "Ich befürchte, dass die Europäer uns nicht verstehen", sagt die Politologin. Sie zeigt sich enttäuscht über die Berichte der letzten Tage, die "ein oberflächliches und falsches Bild" des Landes zeichnen. Es gehe nämlich nicht bloß um den Konflikt zwischen Säkularisten und islamischen Kräften. Seit vielen Jahren schon, nicht erst seit dem Amtsantritt des konservativen Premiers Recep Tayyip Erdogan, ist das Land zerrissen. Es gibt soziale Spannungen, eine ökonomische Kluft zwischen West und Ost, Kurden ringen um die Anerkennung ihrer Minderheitenrechte, die Zivilgesellschaft formiert sich.

An der Neuordnung dieses Staates auf der Suche nach sich selbst wollen sich nun aber ebenfalls Bürger, vor allem die jüngeren, beteiligen. So handle es sich auch bei den Demonstranten nicht zuletzt um Menschen, die ihre Mitsprache einfordern, erklärt die Tesev-Analystin. Wie viele ihrer Kollegen in nichtstaatlichen Organisationen ist sie der Meinung, dass die EU die Türken in ihren Bemühungen um Demokratisierung unterstützen sollte. Daher sollten die Beitrittsverhandlungen wieder starten.

Absurderweise sind aber ausgerechnet jene Kapitel blockiert, die um die Bereiche Grund- und Menschenrechte sowie Justiz kreisen. Darauf weist Gerald Knaus von der Denkfabrik ESI (European Stability Initiative) hin. Die Kritik der EU sei dennoch gerechtfertigt: Die Kriterien zur Wahrung von Rechten wie Demonstrations- oder Meinungsfreiheit erfülle die Türkei noch nicht. Dabei wäre sie dazu schon durch ihre Mitgliedschaft im Europarat verpflichtet.

Um den Stillstand in den Verhandlungen zu durchbrechen, bräuchte es Anstrengung von beiden Seiten - und die ist derzeit nicht in Sicht, stellt Knaus fest. Dennoch sieht er das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei als stabil an: Keiner wolle die Gespräche völlig abbrechen. Das werde wohl auch so bleiben.