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Die Stadt der 99 Mauern

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Ein Meer aus Sperrwällen durchschneidet Belfast, die andere Seite bleibt der Feind.


Belfast. Ein seltsameres Ritual als dieses wird man sonstwo in Europa schwerlich finden. Jeden Morgen um neun Uhr rollt in einem Park im Norden der Stadt Belfast ein städtischer Bediensteter in seinem Dienstwägelchen herbei, um ein Eisentor aufzuschließen und das scheppernde Ding, so weit es eben geht, zu öffnen. Das Tor findet sich mitten in einem 120 Meter langen und dreieinhalb Meter hohen Wellblechzaun, der den Alexandra Park in zwei Hälften teilt. Entlang des oberen Teils leben die örtlichen Katholiken, der untere wird von Protestanten frequentiert.

Das Tor ist der einzige Durchschlupf, der es Spaziergängern erlaubt, von einer Hälfte in die andere hinüber zu wechseln, ohne den ganzen Park umgehen zu müssen. Viel Zeit bleibt ihnen dafür nicht. Denn um drei Uhr nachmittags wird das Tor wieder fest verschlossen. Dann sind die Bäume auf der einen Seite wieder katholische Bäume und die auf der anderen protestantische. Der Kinderspielplatz am oberen Ende bleibt katholischen Kindern vorbehalten und der am unteren Ende kleinen Protestanten. Der Bach, der durch den Park fließt, wechselt auf halber Strecke, ob er will oder nicht, das Bekenntnis.

Kein Juli ohne Blutvergießen

"Man muss ja", meint ein Ortsansässiger im Trainingsanzug, "schon froh sein, dass man am späten Morgen mal mit dem Hund hinübergehen kann, zur anderen Seite." Eine junge Mutter, die ihre Kinder zum Spielplatz führt, ist allerdings auch "ganz zufrieden" damit, dass nachmittags um drei die Riegel wieder vorgeschoben werden. Sicherer sei das, sagt sie, auf alle Fälle: "Wir wollen gar nicht, dass der Zaun wieder verschwindet. Dann kommen sie nachts zurück und bombardieren uns mit Steinen und mit Flaschen. Und im Park selbst geht es neu mit Krawallen los." Das war tatsächlich über lange Jahre die bittere Realität der Parkanwohner auf beiden Seiten. Hass und Gegenhass zweier Bevölkerungsteile haben Belfasts alten Alexandra Park - wie viele weniger grüne Working-Class-Bezirke in der Stadt - zur Nahtstelle sektiererischer Konfrontation gemacht.

Rebellierende Iren und um ihren kleinen Besitzstand bangende Briten haben einander schon lange vor den nordirischen Troubles an solchen Brennpunkten in Belfast das Leben zur Hölle gemacht. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Vor allem in den heißen Sommernächten, wenn individueller Frust sich kollektiv entladen muss. "Sie brauchen ja nur mal zur Crumlin Road hinüber zu schauen", meint die junge Frau achselzuckend. "Da sehen Sie, was passiert, wenn der Funke überspringt." Jeder Funke produziert hier ein größeres Feuer. Am vergangenen Wochenende sind bei Ausschreitungen von Loyalisten wieder Dutzende Polizisten, der unionistische Abgeordnete der Gegend und ein Pressefotograf verletzt worden.

Nach den jährlichen Märschen, mit denen die Protestanten bis heute den Sieg Wilhelms von Oranien über die Katholiken im Jahre 1690 feiern, braucht es nicht viel, um erhitzte Gemüter zum Griff nach Prügeln und Benzinbomben zu bewegen. Die Straßen werden über Nacht zu Scherben-Teppichen. Ohne Blutvergießen scheint man durch keinen Juli zu kommen.

Eben die Angst vor solchen Ausschreitungen war ursprünglich der Grund für die historische Abschottung der Viertel voneinander. Als 1969 die Spannungen in Nordirland explodierten, begann man die ersten Mauern hoch zu ziehen. Die mächtigste, "die Mutter aller Mauern", trennt bis heute die Stadtteile Shankill und Falls. Gedacht war sie als provisorische Angelegenheit. Sie werde "eine sehr, sehr kurzfristige Einrichtung" sein, gelobte noch Armee-Generalleutnant Sir Ian Freeland, der sie bauen ließ. "Wir werden in dieser Stadt keine Berliner Mauer oder so etwas dulden." Inzwischen ist die Berliner Mauer längst Erinnerung. Die Mauer zwischen Falls und Shankill aber steht unerschütterlich weiter mitten in Belfast: 44 Jahre, nachdem die britische Armee sie für nötig hielt.

Sicherheit durch die Mauer

Andere Mauern sind in anderen Vierteln hinzu gekommen. Es können Wellblechzäune sein, wie im Alexandra Park. Oder lange eiserne Gitter, wie man sie von Käfigen in Tierparks kennt. Oder Trennwände mit scharfem Stacheldrahtverhau. "Peace Walls", Friedens-Mauern, nennt man diese Grenzziehungen in Belfast. In ihrem Schatten, beteuern die Anwohner, lasse sich zumindest ohne Angst vor direkten Überfällen leben. Besonders viele gibt es im Norden Belfasts, der traditionell ein Geflecht aus kleinen protestantischen und katholischen Siedlungen ist. Hier kann man kaum ein paar Schritte gehen, ohne auf "die Gegenseite", ohne auf immer neue No-Go-Areas zu stoßen.

Von klein auf kennen es die Leute hier nicht anders. Zwei Drittel aller Teenager in diesen Gebieten geben an, "noch nie wirklich ernsthaft mit jemandem von der anderen Seite gesprochen zu haben". Nicht mal jedes zehnte Kind in Belfast geht auf eine integrierte Schule. Die anderen neun werden strikt protestantisch oder katholisch aufgezogen.

99 Mauern gibt es in Belfast, nach letzten Zählungen des halbamtlichen "Belfast Interface Project". Doch auch zu Friedenszeiten wollen die Mauern schlicht nicht bröckeln. Im Gegenteil: Rund ein Drittel ist erst seit dem IRA-Waffenstillstand von 1994 und dem Belfaster Friedensvertrag von 1998 gebaut worden. Das vielbejubelte Ende der Troubles, der Abzug des Militärs und die bemerkenswerte Zusammenarbeit der alten Erzfeinde auf der politischen Bühne haben in Belfast über die mittelständischen Viertel hinaus wenig neues nachbarschaftliches Vertrauen geweckt.

In den ärmeren Vierteln hat sich, finden die Leute, nicht viel zum Guten gewendet. Eher zum Schlechteren: Auch die Protestanten kämpfen nun mit weitflächiger Arbeitslosigkeit. Die großen Werften, die Maschinenfabriken, die britische Armee als Arbeitsreservoir - alles verschwunden. Früher sei es für junge Protestanten noch anders gewesen, erklärt Joe O’Donnell, der Leiter des "Belfast Interface Project": "Wenn dein Onkel irgendwo einen Job hatte, wusstest du, dass du auch einen kriegen würdest. Inzwischen geht der Onkel seit zehn Jahren stempeln."

Mag Belfast auch im finanziell aufgepäppelten Zentrum blühen und einen Strom von Touristen, ein eindrucksvolles Titanic-Museum und jede Menge modische Cafés vorweisen können: In den vergessenen Vierteln wie Glenbryn oder der Ardoyne sind Hoffnungslosigkeit, Drogenprobleme und Ressentiment gegen "die andere Seite" eher noch gestiegen. Die Selbstmordrate gehört zur in Europa.

Ausgerechnet die Stadtteile, die schon während der Troubles die meisten Opfer brachten, hätten auch jetzt, nach Friedensschluss, weiter am meisten zu leiden, meint O’Donnell. Zu wenig an Investitionen sei ihnen in den vergangenen Jahren zugeflossen: "Dass, wie versprochen, die Flut alle Boote gleichzeitig anheben würde - das ist hier nicht geschehen." Eine Weile ließ sich diese Situation, nach dem Friedensschluss von 1998, noch kaschieren. Die Wachstumsjahre der Millenniumszeit und der Boom des Keltischen Tigers im Süden sorgten für Jobs, auch für Gelegenheitsarbeiten. Britische und internationale Hilfe sollten die Fundamente für ein neues Nordirland legen. Aber 15 Jahre nach dem Karfreitags-Pakt beginnt die Unterstützung abzuebben.

Sorge vor der Dauerlösung

Vor allem sind neuerdings viele der Belfaster Initiativen bedroht, die in den Krisenvierteln mit zähem Mut überkonfessionelle Verständigung zustande zu bringen suchten - Initiativen, die die Mauern in den Köpfen bekämpfen, um die greifbaren Mauern überflüssig zu machen. Der ehemalige Polizeioffizier Peter Sheridan etwa, der mit "Co-operation Ireland" eine dieser Initiativen leitet, wirft der Regierung vor, "kein Langzeit-Konzept" für das Abtragen solcher Mauern zu haben: "Wenn wir da nichts tun, laufen wir Gefahr, dass wir uns mit Segregation als einer Lösung zufrieden geben. Aber eine Lösung ist das wahrhaftig nicht."

Inzwischen haben Nordirlands unionistischer Regierungschef Peter Robinson und sein republikanischer Vize Martin McGuinness erklärt, sie würden gern "binnen zehn Jahren" ein mauerfreies Belfast sehen. Doch haben sie ihren jeweiligen Wählerschaften im gleichen Atemzug versichert, dass deshalb "nicht schon morgen" die Bulldozer anrücken würden. Skeptiker glauben ohnehin nicht, dass sich das Problem in einem solchen Zeitraum lösen lässt - vor allem wenn in den kommenden Jahren für eine vernünftige Integrationsarbeit Geld und politischer Wille fehlen. Gebaut sei eine solche Mauer schnell, meinen viele Belfaster heute resigniert. Sie wieder loszuwerden, werde einiges länger dauern.