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Heimspiel in Berlin-Moabit

Von WZ-Korrespondent Michael Pöppl

Politik
Vor der alten Arminius-Markthalle in Berlin-Moabit mischt sich Peer Steinbrück unters Wahlvolk. Nach dem TV-Duell mit Angela Merkel gilt der Kanzlerkandidat der SPD nicht mehr als ein ausschließlich hoffnungsloser Fall, sondern wieder als einer, der für pointierte Meldungen gut ist.
© M. Pöppl

Nach dem TV-Duell stößt Peer Steinbrück auf einmal wieder auf reges Interesse.


Berlin. Dienstagnachmittag, es regnet, Wahlkampfzeit in Moabit beim Ortsverband des Bezirks Mitte. Die Menge in der alten Markthalle murmelt erwartungsvoll, man isst, trinkt und unterhält sich, eine Multikulti-Band spielt Reggae und Funk. Peer Steinbrück, der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten, wird die Genossen in der einstigen roten Arbeiterhochburg besuchen, um Eva Högl, die hiesige Direktkandidatin der SPD, zu unterstützen.

Zwei Kilometer liegt das Kanzleramt entfernt, in das Steinbrück demnächst einziehen will, doch von großer Politik ist hier wenig zu spüren. Die benachbarte Turmstraße mit den vielen Imbissen, Spielhallen und Billigläden war einst eine beliebte Einkaufsgegend für kleine Leute. Neben der Eingangstreppe zur U-Bahn stehen heute die Dealer: "Brauchst du was?" fragt einer, als ein jüngerer Passant vorbeigeht.

Griechischer Plausch

Die hohe Arbeitslosigkeit von mehr als 16 Prozent und ein Migrantenanteil von knapp 30 Prozent sowie die steigenden Mieten sind wohl die Probleme, die die Moabiter am meisten beschäftigen. Mehr als 300 Menschen sind gekommen, um Steinbrück zu sehen, die wenigen Stühle vor der kleinen Bühne sind längst besetzt. Die Bundestagsabgeordnete Högl hält eine kurze Rede, der breiteren Öffentlichkeit wurde die 45-jährige Juristin durch ihre engagierte Arbeit im NSU-Untersuchungsausschuss bekannt. Vier Fernsehteams und dutzende Journalisten erwarten den Kandidaten ungeduldig.

Als endlich die schwarzen Limousinen vorfahren, setzt hastiges Drängeln ein. Schon im Eingangsbereich der Markthalle ist Steinbrücks Tross von Kameras und Mikrofonen umzingelt, ein Bodyguard bahnt ihm den Weg.

So viel Interesse am SPD-Kanzlerkandidaten herrschte schon lange nicht mehr. Der Mann, der vielen wegen seiner aussichtslosen Kandidatur als politischer Selbstmörder galt, ist wieder da. Seit dem erfolgreich bestandenen TV-Duell mit Angela Merkel gilt Steinbrück plötzlich wieder als einer, der für Meldungen gut ist. Eine junge Frau mit Kinderwagen ist genervt vom hohen Besuch, weil ihr der Pulk den Weg nach draußen verstellt. Högl führt ihren Kollegen persönlich durch die Halle. Gleich neben dem Eingang liegt der weiß gekachelte Currywurstimbiss, der in den frühen 1980ern als Kulisse für die "Drei Damen vom Grill" mit Brigitte Mira und Harald Juhnke diente. Die Gruppe blockiert die Theke, Högl und Steinbrück wechseln einige Worte, dann zieht der Tross zum nächsten Stand, die Imbissverkäuferin sieht nur kurz auf. "Wer is’n die Blonde?", fragt ein älterer Herr in blauer Regenjacke. "Is’ det seine Olle?" "Nee, det is doch die vom Plakat", erwidert die Gemahlin im lila Pendant. "Ach so", sagt er, dann gehen sie weiter.

An einer Käsetheke wechselt der Kandidat einige Worte mit dem Besitzer, Fotografen schubsen einander gegenseitig bei der Suche nach dem besten Motiv: Steinbrück und der potenzielle Wähler. Gedränge und Lautstärke nehmen noch zu, als ein griechischer Delikatessenstand erreicht ist. Höfliches Händeschütteln, ein kurzes Gespräch, die Kameras klacken hektisch: Steinbrück und ein echter Grieche!

Als Högl endlich "den zukünftigen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland" am Rednerpult begrüßt, kommt verhaltener Applaus auf. Der Ton ist schlecht, Steinbrück, der direkt von der Bundestagsdebatte kommt, genießt die Situation dennoch sichtlich. Seine Rede wirkt souverän, seine Bilanz der Regierung Merkel ist verheerend: "7 Millionen Menschen haben einen Job, mit dem sie nicht über die Runden kommen, 1,2 Millionen von ihnen müssen über Hartz IV aufstocken, das ist ein Skandal." Heftiger Applaus. Als das Mikrofon übersteuert, scherzt er - "das ist die CDU" - und erntet Gelächter. Mindestlohn, Steuergerechtigkeit, Mietenbindung, das sind Themen, mit denen Steinbrück hier punktet. Maklergebühren sollten in Zukunft die Vermieter übernehmen. "Wer bestellt, der bezahlt auch!" Dieses Fazit bringt Steinbrück begeistertes Klatschen am Ende seiner Rede.

Routiniert bis ironisch

Die gesammelten Wählerfragen auf Karteikarten beantwortet der Kandidat dann zuverlässig. Transaktionssteuer, Entwicklungshilfe, NPD-Verbot, Bürgerversicherung, europäische Schuldenkrise - immer hat er Zahlen oder Beispiele aus dem Alltag parat, manchmal wird er sogar selbstironisch. Beim Thema "Zweite Chancen in der Bildung" erzählt Steinbrück, dass er als Schüler selbst einmal sitzengeblieben sei: "Ein Trost also für alle Eltern, wenn Ihren Kindern das auch passiert, dann können die immer noch Kanzlerkandidat der SPD werden!" Zum Abschied lang anhaltender Applaus, Steinbrück ist sichtlich erleichtert. Als ein begeisterter SPD-Fan ihm das Victory-Zeichen zeigt, spreizt er ebenfalls die Finger beider Hände. Sehen so Sieger aus?

Der Pulk aus SPD-Genossen und Fotografen drängt wieder ins Freie, wo die schwarzen Limousinen warten. Steinbrück gibt letzte Statements. Eine ältere Dame bewegt sich langsam auf ihn zu, eine Autogrammkarte Steinbrücks liegt auf ihrem Rollator. "Die hätte ich gerne unterschrieben", sagt sie zu ihrem Begleiter. Doch auch sie wird nicht durchkommen.

Der Konvoi verschwindet schnell. Drinnen am Imbiss wird die Verkäuferin von einem Kunden gefragt, ob sie mit Steinbrück gesprochen habe. "Nee, das hätte mir gerade noch gefehlt", sagt sie und würzt die Currywurst. "Wie immer ein bisschen schärfer?"