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Die Gesten der Macht

Von WZ-Korrespondent Michael Pöppl

Politik
Farce Wars. Postpolitik im deutschen Wahlkampf: Die Politik der Symbole ging über Substanz.
© Fabian Gampp

"Merkel-Raute" und "Steinbrück-Finger" prägten den deutschen Wahlkampf.


Berlin. Was bleibt vom deutschen Bundestagswahlkampf? Die kargen politischen Aussagen im inhaltsarmen Wettbewerb werden viele Menschen schon bald vergessen haben. Die meisten Wähler wissen: Was in den Parteiprogrammen steht, ist nicht mehr als eine politische Willenserklärung. Wahlkampfaussagen haben eine begrenzte Haltbarkeit und auch Politiker werden höchstens von den nachtragenden Medien daran gemessen, was sie irgendwann einmal gesagt haben. "Was stört mich mein Geschwätz von gestern", wie Konrad Adenauer, der erste Kanzler der jungen Bundesrepublik, einst sagte.

Was aber bleibt, sind Bilder, vor allem die Gesten der Macht. Ende 2011 tauchte der Begriff der "Merkel-Raute" zum ersten Mal auf, bei einer Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte. "Man kann nicht nicht kommunizieren" hieß die Schau nach einem Zitat des amerikanischen Psychotherapeuten Paul Watzlawick. Es ging dabei um die Gesten von Macht, Ordnung und Widerstand, darum, dass Kommunikation zu über 55 Prozent über nonverbale Signale funktioniert. Das erklärt, warum wir Menschen so oft "aus dem Bauch heraus" entscheiden. Die typische Handhaltung Merkels bei öffentlichen Auftritten - die Hände vor dem Bauch zu einer Raute geformt, die Daumen und die Zeigefinger berühren sich jeweils - war wohl zu Beginn eher eine Verlegenheitsgeste: Wohin bloß mit den Händen?

Die Geste war bekannt, dennoch herrschte in Deutschland großes Staunen darüber, was die CDU wohl geritten hatte, auf dem "größten Wahlplakat der Welt" am Berliner Hauptbahnhof einzig die Hände von Angela Merkel zu zeigen. Auf 70 mal 20 Metern war ein Puzzle aus über 2000 Einzelfotos zusammengesetzt, Unterstützer der Kanzlerin, die wiederum ihre bekannteste Geste nachmachen. Daneben stand in metergroßen Lettern: "Deutschlands Zukunft in guten Händen". Der scheinbar inhaltsarme Werbegag passte zum ebenso inhaltslosen Wahlkampf der CDU und sorgte für allgemeine Häme.

In der kreativen und wohl eher linkswählenden Netzgemeinde kursierten bald Parodien auf das Megaposter, über den Merkelhänden tauchten Schreckgestalten aus der Populärkultur auf. Die Handhaltung passte ebenso zum bösen Darth Vader aus "Krieg der Sterne" wie zum verschlagenen Mr. Burns aus "Die Simpsons". Natürlich auch der Vergleich mit der "Eisernen Lady" Margret Thatcher, ebenso mit eher harmlosen Helden wie Mr. Bean, der dazu noch einen kleinen Teddy in den Merkelhänden hält. Hunderte Versionen kursierten, der Spott schien unendlich.

"Mutti macht das schon!"

Aber je öfter man aber das riesige Plakat sah, den hundertausende Berliner täglich neben dem Hauptbahnhof erblickten, desto mehr schwante dem Betrachter die Genialität des CDU-Werbefeldzugs - und das fulminante Wahlergebnis der CDU gab den Erfindern recht: Die Raute ist das perfekte Symbol der Merkel’schen Politik. Die Finger vor dem Bauch schließen sich zu einem ewigen, geduldigen Kreis. Buddhistische Gelassenheit und Ruhe strahlt die Geste aus, sie steht für Abwarten und das Gegenteil von hektischem Aktionismus: "Mutti macht das schon!" Genau das, wofür viele Deutsche die Kanzlerin schätzen.

Was ist dagegen der Stinkefinger eines Peer Steinbrück, den der in der bekannten Fotostrecke "Sagen Sie jetzt nichts" des "SZ-Magazins" zeigte? Das Foto war nur ein kleiner Skandal, der vor allem die Humorlosen aufregte, die sich auch über Stefan Raab als Moderator des Kanzlerduells mokierten. Die Motivation für die Veröffentlichung des scheinbaren Ausrasters war zu offensichtlich. Klar verkauft sich der Kanzlerkandidat gerne als cooler Typ, der Rolling Stones hört oder mit schwarzgelbem Fan-Schal im Fußballstadion sitzt. Doch die jungen Wähler nahmen dem steifen Steinbrück diese gewollte Provokation kaum ab. Und dem unentschiedenen konservativen Wähler mittleren Alters, der noch zwischen CDU und SPD schwankte, gab Steinbrück mit dem erigierten Mittelfinger ein eindeutiges Zeichen: "Ich pfeif auf deine Meinung!"

Die immense Bedeutung der beiden Gesten im deutschen Wahlkampf und die massiven öffentlichen Reaktionen darauf sind ein deutliches Zeichen dafür, wie abstrakt unsere Mediengesellschaft inzwischen funktioniert. Bei den Suchmaschinen gehören "Merkel-Raute" und "Steinbrück-Finger" zu den meistgesuchten Begriffen, die Geste der Kanzlerin hat sogar einen eigenen, wenn auch viel diskutierten Beitrag im Online-Lexikon Wikipedia erhalten. Dort kann man übrigens auch erfahren, dass die 2013er-Version von Angela Merkel im Wachsfigurenkabinett der Madame Tussauds in London die Merkel-Raute zeigt. Und eben dort, in England, erschien vor einer Woche die deutsche Kanzlerin in typischer Pose auf dem Titelblatt des Wirtschaftsmagazins "The Economist": "One woman to rule them all", in Parallele zu Tolkiens "Herr der Ringe". Eine satireunverdächtige, aber nicht ganz uneigennützige Wahlempfehlung von Ministerpräsident David Cameron, dem das Blatt durchaus nahesteht.