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Lampedusa - "Tschernobyl der Abschottungspolitik"

Von Katharina Schmidt

Politik

Vielleicht hat die Flüchtlingstragödie mit mehr als 300 Toten vor Lampedusa die Politik zum Umdenken gebracht, hofft Bierdel.


Wien. Die Flüchtlingstragödie vor Lampedusa mit mehr als 300 Toten hat sich abgezeichnet. Der ehemalige Journalist Elias Bierdel war schon 2004 als Chef der deutschen Hilfsorganisation Cap Anamur an einer Rettungsaktion beteiligt: Mit dem gleichnamigen Schiff wurden damals vor Lampedusa 37 Schwarzafrikaner aus einem überfüllten Schlauchboot mit Motorschaden gerettet. Die italienische Küstenwache verhinderte über Wochen ein Einlaufen in den Hafen Porto Empedocle. Und als es endlich gelang, an Land zu gehen, wurden Bierdel, der Kapitän und der Erste Offizier des Schiffes verhaftet und wegen Schlepperei vor Gericht gestellt. Die Flüchtlinge wurden nach Afrika abgeschoben, einer von ihnen starb bei einem neuerlichen Fluchtversuch.

Bierdel geriet in öffentliche Kritik, ihm wurde Aktionismus vorgeworfen. Das zwei Jahre dauernde Gerichtsverfahren wegen Schlepperei gewann er, den Vorsitz der Hilfsorganisation musste er abgeben. Heute bildet der Migrationsexperte Friedenshelfer auf Burg Schlaining im Burgenland aus. Mit der "Wiener Zeitung" hat er über die Tragödie an Europas Seegrenzen gesprochen.

"Wiener Zeitung": Seit Jahren schon ertrinken tausende Boat People vor den Küsten Europas. Was ist diesmal anders?Elias Bierdel: Es scheint so, als hätte es dieses singuläre Unglück vor Lampedusa gebraucht, damit man versteht, was da wirklich passiert. Ich verfolge die Entwicklung auf dem Mittelmeer seit fast zehn Jahren, es gibt zahlreiche vergleichbare Vorfälle, die nicht wahrgenommen wurden. Hoffen wir, dass das so etwas wie ein Weckruf wird, ein Tschernobyl der Abschottungspolitik, damit man nun wirklich über die Probleme diskutiert.

Danach sieht es aber nicht aus, wenn man sich die Reaktionen der Politik anschaut.

Wir müssen uns alle fragen, wie es sein kann, dass uns die 32 Toten an Bord der "Costa Concordia" so viel mehr interessieren als die ungefähr 1400 zeitgleich in derselben Region des Mittelmeers ertrunkenen Flüchtlinge. Allerdings gibt es eine erhebliche Veränderung der Reaktion: Italien hat Staatstrauer verhängt, der Ministerpräsident kniet an den Särgen nieder, der Papst meldet sich scharf zu Wort. Auf der anderen Seite versuchen bestimmte Teile der politischen Klasse, den alten Irrweg fortzusetzen. An der Reaktion der europäischen Innenminister etwa sieht man, dass sie nicht die Richtigen sind, um mit diesem sensiblen Thema weiterhin betraut zu sein.

Welche Maßnahmen würden Sie sich nun erwarten?

Wenn wir uns alle einig sind, dass das Sterben im Mittelmeer und an den Außengrenzen der EU sofort aufhören muss, folgen daraus konkrete Schritte. Das Drängen der Küstenstaaten Malta, Griechenland, Spanien und Italien auf einen Schlüssel zur Aufteilung der Asylwerber ist noch nicht vom Tisch - wir brauchen nach der Logik gemeinsamer Außengrenzen auch eine gemeinsame Zuständigkeit für die Menschen, die ankommen. Wir wissen, dass es im Europaparlament eine Mehrheit für eine Quotenlösung gibt. Das ist nötig und wir müssen darüber diskutieren.

Am Donnerstag hat das Parlament das Eurosur-System verabschiedetet. Das klingt aber eher nach noch mehr Abschottung.

Diese Beschlüsse entstanden aus der Logik der Abschottung und Abschreckung um jeden Preis. Es ist traurig, dass ein Antrag der Grünen, wenigstens die Seenotrettung für Flüchtlinge hineinzuschreiben, abgelehnt wurde. Das ist ein dunkler Tag für dieses Parlament. Aber es gibt dort und in der Kommission Strömungen, die einen grundsätzlichen Wandel im Umgang mit Menschen an den Außengrenzen wollen.

Wie könnte dieser aussehen?

Wenn es keine legalen Zugangswege für Schutzbedürftige gibt, dann sind sie gezwungen, aus unserer Sicht illegalisierte Wege zu beschreiten - mit allen furchtbaren Folgen. Wenn wir ihnen nicht mehr erlauben, an Botschaften im Ausland ihren Antrag auf Asyl zu stellen, dann sind sie dazu verurteilt, ihr Glück auf irgendwelchen wackeligen Booten zu suchen. Dieser Widerspruch ist jetzt so deutlich zu Tage getreten, dass er ein Einlenken erzwingt: Das eine oder das andere muss wieder ermöglicht werden, sonst sind europäische Politiker unmittelbar dafür verantwortlich, dass das Sterben nicht nur weitergeht, sondern dass die Opferzahlen in den nächsten Jahren stark steigen werden.

Fischer, die Leute in Not aufnehmen, laufen in Italien Gefahr, wegen Schlepperei angeklagt zu werden. Sie wurden mit Cap Anamur ebenfalls vor Gericht gestellt, haben den Prozess aber gewonnen. Kommt das nach wie vor vor?

Das hat überhaupt nicht aufgehört, und wir waren auch nicht der erste Fall. Die Lebensrettung an sich wird nicht in Frage gestellt, aber wenn man die Menschen an Land in Sicherheit bringt, wird daraus eine illegale Einreise. Da werden jene kriminalisiert, die als Überlebende an Land kommen, und mit ihnen alle, die ihnen geholfen haben. Auch im jüngsten Fall vor Lampedusa hat man die 155 Überlebenden unmittelbar wegen illegaler Einreise angezeigt. Im aktuellen Fall haben wir auch gesehen, dass Fischer, die ihnen helfen wollten, daran gehindert wurden. Das ist für uns überhaupt nichts Neues.

"Nie akzeptieren" wird Elias Bierdel den Umgang mit den Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen, sagt er - in der Votivkirche, dem Ort des österreichischen Flüchtlingsprotests.
© Christian Wind

Wie viele Menschen ertrinken jährlich an den Seegrenzen?

Die Zahlen gibt es nicht. Es gibt keinen einzigen europäischen Beamten unter den vielen tausend, die mittlerweile in der Abwehrschlacht gegen vermeintlich illegale Migranten und Flüchtlinge engagiert sind, der sich mit der Frage der Opfer beschäftigt. Eine Schätzung der Regierung der Kanaren geht davon aus, dass allein im Jahr 2006 und nur vor den Küsten der Kanarischen Inseln 6000 Menschen ertrunken sind. Andere Schätzungen aus der EU-Kommission sprechen von 4000 pro Jahr. Man muss annehmen, dass die Dunkelziffer viel höher ist, weil viele dieser kleinen Boote irgendwo zwischen den Wellen verschwinden, ohne dass wir es je erfahren - was nicht bedeutet, dass sie nicht gesehen wurden.

Also fahren Grenzschutzbeamte oder Fischer manchmal einfach vorbei?

Es fahren viele vorbei, weil zivile Schiffer eben befürchten müssen, dass sie tagelang festgehalten und kriminalisiert werden und dann ihren Hafen nicht rechtzeitig erreichen. Es gibt eine Reihe von Schauprozessen wie jenen rund um unser Schiff "Cap Anamur", mit dem klaren Ziel, andere von der Nachahmung abzuhalten. Wenn Fischer ein sinkendes Boot sehen, informieren sie die Küstenwache, aber die kommt oft ganz einfach nicht. Das ist auch unmittelbar vor Lampedusa schon passiert. Gesehen wird jedes Boot, weil das eine Hochsicherheitszone ist. Das Interesse, die Menschen zu retten, fehlt ganz offenbar. Die meisten dort operierenden Schiffe im Kontext von Frontex-Einsätzen verfügen nicht einmal über die einfachsten Mittel zur Rettung von Schiffbrüchigen. Das ist ein eindeutiges Zeichen, worum es hier geht: nicht um Rettung von Menschenleben. Es gibt zwar keinen Befehl, die Menschen abzuknallen, aber die Praxis ist so. Wir haben viele Fälle dokumentiert, in denen unter den Augen von Beamten Menschen gestorben sind. Vor zweieinhalb Jahren wurde ein Boot mit 78 Eritreern über zwei Wochen zwischen den Küstenwachen von Malta und Italien wie ein Ping-Pong-Ball hin- und hergespielt. Als 73 von ihnen auf dem Meer verdurstet waren, hat man die fünf Überlebenden dieses Mordes auf dem Meer an Land gelassen und in Italien wegen illegaler Einreise angeklagt. Das hat damals die Öffentlichkeit in Mitteleuropa nicht interessiert.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Jahr 2012 die Zurückweisung von Flüchtlingsbooten an den Seegrenzen untersagt. Wird das umgesetzt?

Wir haben die Praxis, Boote auf offener See zu stoppen und zur Umkehr zu zwingen, jahrelang kritisiert. Wohin kehren die um? Mit welchen Methoden? In welchem Zustand sind die Menschen an Bord? Sind die Boote technisch überhaupt noch in der Lage, ein Ufer zu erreichen? All das ist unklar. Diese Praxis ist ein eindeutiger Bruch des Völkerrechts, des Seerechts und der Genfer Flüchtlingskonvention. Und dann kam das Urteil des EGMR, in dem genau das festgestellt wird. Daraufhin sagte der damalige italienische Ministerpräsident Mario Monti: "Dann müssen wir jetzt ein bisserl auf die Menschenrechte achten." Das macht erst klar, dass diese Frage an den EU-Außengrenzen keine Geltung hat.

Werden Flüchtlingsboote nach wie vor zurückgeschleppt?

An mehreren "Frontabschnitten" der Außengrenzen geht das unverändert so weiter. Die Flüchtlingsbewegungen drehen sich immer zu anderen Stellen hin, wenn man einen Abschnitt dichtmacht. Als man Gibraltar dichtgemacht hat, haben sie sich in Richtung Lampedusa gedreht, als Lampedusa durch Verträge mit Libyens Oberst Muammar Gaddafi abgeriegelt wurde, haben sie sich wieder woanders hinbewegt. Am Evros steht ein großer Zaun, Frontex jubelt, und da spielen sich wieder am Wasser in der Nordost-Ägäis grauenhafte Szenen ab. Wir haben nachgewiesen, dass die Küstenwache dort Menschen
ins Wasser wirft, da gibt es Scheinhinrichtungen, Boote werden auf offener See gerammt und zerstört. Jene, die trotzdem ein rettendes Ufer erreicht haben, werden in Lagern mit Stacheldrahtzaun zusammengepfercht. Diese Leute haben kein Verbrechen begangen.

Auch zu Eurosur soll es erste Verhandlungen mit Libyen geben. Lagert Europa die Verantwortung für die Flüchtlinge nach Afrika aus?

Italien hat sich über Jahre hinweg für teures Geld erkauft, dass Gaddafi verhinderte, dass solche Boote fahren. Mit dem Zusammenbruch der Diktaturen haben sich die Menschen wieder auf den Weg gemacht und nun schreit Europa Alarm. Die allererste Hilfslieferung von Europa an Tunesien nach dem Arabischen Frühling bestand in der Aufrüstung der Küstenwache. Es wird auf die Mittelmeer-Anrainerstaaten im Süden Druck ausgeübt, damit sie die Grenzen für Europa dichthalten.

Die Staaten haben das Bedürfnis, die Grenzen dichtzumachen, um die eigenen Bürger und den Wohlfahrtsstaat zu schützen.

Das ist eine von zwei großen Propaganda-Thesen. Die eine ist das Spiel mit den Zahlen: Es wird immer von einem riesigen Anstieg der Asylwerberzahlen gesprochen, dabei haben wir heute nur einen Bruchteil der Asylanträge, die wir vor 20 Jahren hatten. Nur weil man zwischenzeitlich die Zahlen mit äußerster Rigidität gegen null gedrückt hat, jammern wir, wenn sie nun wieder steigen. Unsere Antwort ist: Türe zu, das Boot ist voll. Dabei wird hier bewusst verdreht, denn wir wissen, dass wir in Europa einen Großteil unseres wirtschaftlichen Erfolgs der Zuwanderung verdanken. Österreich ist da keine Ausnahme.

Und zum Wohlfahrtsstaat: Der Saldo der "Ausländer" mit den Sozialversicherungssystemen ist positiv. Sie zahlen mehr ein, als sie herauskriegen, und subventionieren damit für die Nicht-Ausländer die Sozialversicherungssysteme. Das ist seit vielen Jahren eine unumstößliche Wahrheit, aber wir tun so, als wäre es anders herum.

Bereuen Sie im Nachhinein, was mit der "Cap Anamur" passiert ist?

Das konnten wir uns so nicht vornehmen, das ist eben so passiert. Für die Geretteten wurde es ein Debakel. Auch mit uns ist man mies umgegangen. Wir haben von Anfang an gewusst, dass das ein politischer Prozess ist. Aber als Europäer mit weißer Hautfarbe und europäischem Pass ist man auf dieser Welt immer noch auf der Luxusseite.

Auch Sie persönlich wurden angefeindet. Wie war das für Sie?

Mir hat nur wehgetan, dass sich das zu meiner Familie und meinen Kindern durchschlug, die ich in dieser Phase ihres Lebens nicht so unterstützen konnte, wie ich es gerne getan hätte. Aber aus meinem persönlichen Umfeld hat sich trotz der schlimmen Verleumdungen niemand zurückgezogen. So kann ich sagen: Das ist ein Teil meines Lebens. Es ist wichtig, an bestimmten Stellen den Punkt für sich selbst zu markieren, an dem man sich weigert, etwas mitzutragen, auch wenn es einem als normal vorgegaukelt wird. Und den Umgang mit Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen werde ich so niemals akzeptieren. Mit den Konsequenzen muss man dann leben.

Elias Bierdel, geboren 1960, aufgewachsen an der Grenze zur Mauer in Westberlin, studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, um nachher jahrelang als Journalist zu arbeiten. Zuletzt war er von 1998 bis 2001 als ARD-Korrespondent für Südosteuropa in Wien stationiert. Unter dem Eindruck des Kosovo-Kriegs ging Bierdel zur Hilfsorganisation Cap Anamur, für die er unter anderem in Afghanistan tätig war. Seit 2010 arbeitet er als Migrationsexperte auf der Friedensburg Schlaining. Im Jänner erscheint der Tagungsband der Sommerakademie zu Flucht und Migration "Von Grenzen, Ängsten, Zukunftschancen" im Lit Verlag. Bierdel ist Träger zahlreicher Preise, mit der von ihm gegründeten NGO Borderline Europe erhielt er 2012 den Aachener Friedenspreis.