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Urteil zu Katyn enttäuscht Polen

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Angehörige ermordeter Offiziere hoffen auf Herausgabe von Dokumenten.


Brüssel/Straßburg. Gegen diese Entscheidung können sie keine Berufung mehr einlegen. Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über die Ermittlungen Russlands zu einem 73 Jahre zurückliegenden Verbrechen urteilte, war es für die Kläger die letzte Möglichkeit, in dieser Angelegenheit recht zu bekommen. Dementsprechend enttäuscht zeigten sich die Angehörigen der Opfer über den Spruch. Und nicht nur sie: Auch aus der polnischen Regierung kamen Worte des Bedauerns.

Es geht nämlich um ein Massaker, das die Beziehungen zwischen Warschau und Moskau Jahrzehnte lang überschattet hat: die Ermordung von mehr als 20.000 polnischen Offizieren, Polizisten, Intellektuellen durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD bei Katyn im Frühjahr 1940. Jahrzehnte lang hat der Kreml die Verantwortung dafür geleugnet, die Morde Nazi-Deutschland angelastet und Dokumente unter Verschluss gehalten; ebenso lang hofften die Familienmitglieder, Genaueres über den Tod ihrer Angehörigen zu erfahren.

Erst kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion hat Moskau Schuld eingestanden. Dennoch hätten die russischen Behörden an einer vollständigen Aufklärung der Ereignisse von 1940 kein Interesse gehabt, lautete der Vorwurf von Angehörigen der Ermordeten. 15 Hinterbliebene sind deswegen vor Gericht gezogen, verlangten die Übergabe von Beweismaterial und eine Wiederaufnahme der Ermittlungen. Doch der Gerichtshof in Straßburg, der noch im Vorjahr Russland "menschenunwürdige Behandlung" der Opferangehörigen zur Last gelegt hatte, sah nun von einer Verurteilung ab. Das Tribunal könne gar nicht mögliche Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention beurteilen, weil Moskau diese erst 1998 angenommen hat. Die Ermittlungen zu Katyn haben aber acht Jahre zuvor begonnen. Russland hätte allerdings gegen seine Pflicht verstoßen, dem Gericht alle notwendigen Dokumente vorzulegen, hieß es.

Massengräber entdeckt

Davon zeigte sich der Kreml unbeeindruckt. Stattdessen fand es Vize-Justizminister Georgi Matjuschkin "konsequent und logisch", dass die Richter die Klage großteils abgewiesen haben. Für Moskau ist nun klar, dass die Nachforschungen nicht erneut aufgenommen werden müssen. Warschau hingegen sieht nicht alle Argumente der Kläger berücksichtigt. "Wir sind ein bisschen enttäuscht", erklärte der stellvertretende Außenminister Artur Nowak-Far. Und ein Opferangehöriger kommentierte: "Keiner will mit Russland Schwierigkeiten bekommen."

Dennoch wollen die Familienangehörigen die Hoffnung nicht völlig aufgeben, dass Russland eines Tages alle Namen der Opfer und die Orte der Ermordung bekannt gibt. Auch für polnische Archäologen und Historiker sind die Nachforschungen nicht abgeschlossen. Erst vor kurzem stieß eine Gruppe von ihnen bei Ausgrabungen in der Ukraine auf Massengräber, die bisher unbekannt waren. Die Leichen dort hatten Schusswunden im Hinterkopf - ähnliche wie bei anderen NKWD-Opfern.

Historische Ereignisse haben das Verhältnis zwischen Polen und Russland immer wieder belastet - auch wenn Katyn im sozialistischen Polen lange Zeit kein Thema sein durfte. In Russland selbst wird in nationalistischen Kreisen bis heute auf die eigenen Opfer verwiesen, die der Große Vaterländische Krieg gegen Nazi-Deutschland gefordert hat. Erst vor ein paar Jahren kam es zum gemeinsamen Gedenken russischer und polnischer Politiker bei Katyn. Zu so einem Anlass war im April 2010 auch der damalige Präsident Polens, Lech Kaczynski, mit einer Delegation unterwegs. Das Flugzeug ist beim Flughafen Smolensk abgestürzt. Alle 96 Passagiere sind gestorben.