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"Kroatien steuert auf sehr schlechte Zeiten zu"

Von Katharina Schmidt aus Zagreb

Politik

Drakulić mahnt Mindestmaß an gemeinsam akzeptierter Geschichte ein.


Slavenka DrakulcGeboren 1949 in Rijeka, hat Slavenka Drakulic Kommunismus und Krieg in Kroatien erlebt. Ihre Romane und Sachbücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Ihr Buch "Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht" wurde 2005 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Drakulic ist verheiratet und lebt in Stockholm, Zagreb, Berlin und Wien.
© Foto: Schmidt

Zagreb. Das Land hat Kommunismus und Krieg überstanden, in einigen Ecken - etwa in Vukovar - sind die Nachwehen des Balkankriegs noch zu spüren. Im Sommer ist Kroatien nach achtjährigen Verhandlungen und mit wenig Euphorie der EU beigetreten. Wenige Monate nach dem Beitritt spricht die Autorin und Journalistin Slavenka Drakulić mit der "Wiener Zeitung" über den Zustand des Landes.

"Wiener Zeitung": Als ich einer Kollegin erklärte, dass ich etwas über die Auswirkungen des Krieges auf die heutige Gesellschaft und Politik erfahren will, meinte sie: "Das ist so klischeehaft." Sehen Sie das auch so?Slavenka Drakulić: Wenn Ihre Kollegin eine Kroatin ist, kann ich das gut verstehen. Der Krieg war vor 20 Jahren vorbei - jeder hat dieses Thema schon satt. Aber natürlich muss man trotzdem darüber reden, weil er in gewisser Weise noch nicht zu Ende ist. Ich würde jedem, der an der heutigen kroatischen Politik interessiert ist, raten, etwas über den Krieg zu lernen. Anders wird man nicht sehr viel verstehen.

Was tut Kroatien zur Aufarbeitung des Krieges?

Viel wird schon getan. Alle Staatschefs der Nachfolgestaaten haben sich bei den jeweils anderen entschuldigt. Daraus folgern viele, dass alles schon vorbei sei. Das stimmt aber nicht. Damit der Gedanke der Versöhnung die Gesellschaft erreicht, muss die Politik ihn institutionalisieren - in den Geschichtsbüchern, in kulturellen Einrichtungen oder in der Wirtschaft. Daran gibt es aber kein ernsthaftes Interesse.

Wie sicher ist der Frieden?

Als vor zehn Jahren die EU-Beitrittsverhandlungen begonnen haben, war einer der wichtigsten Punkte die Friedenssicherung in der Region. Heute glaubt zwar keiner mehr so richtig an einen neuen Krieg, andererseits ist der Frieden in der Balkanregion auch nicht stabil - das sehen Sie im Kosovo. Eine andere Gefahr für den Frieden ist die Finanz- und Wirtschaftskrise: Durch die Arbeitslosigkeit werden die rechten Parteien gestärkt, Nationalismus und Fremdenhass werden stärker.

Dieser Beitrag ist im Rahmen von "Eurotours" entstanden. Das Programm gibt Journalisten die Möglichkeit, bis zu eine Woche in einen anderen EU-Staat zu reisen und dort zu recherchieren. Finanziert wird es von der Europa-Partnerschaft (Vertretung der EU-Kommission, Informationsbüro des EU-Parlaments, Kanzleramt, Außenministerium) in Kooperation mit dem Kuratorium für Journalistenausbildung.

Die Antwort auf das Erstarken der Rechten in Wahlen sind oft antidemokratische Tendenzen.

Die Demokratie hat Schwächen, wir wissen das alle. Aber wir haben noch nichts Besseres erfunden, oder? Die ehemaligen kommunistischen Länder durchleben eine Politik- und Demokratie-Krise, weil die Menschen, die dort in den vergangenen 20 Jahren an die Macht kamen, kein demokratisches Selbstverständnis haben. Diese Länder sind immer noch sehr stark von Autoritarismus und Freunderlwirtschaft beherrscht. Nur, weil demokratische Institutionen geschaffen werden, entsteht noch nicht automatisch eine demokratische Kultur.

Wie schätzen Sie den Zustand der kroatischen Demokratie ein?

Mit Blick auf Pressefreiheit, Menschen- und Minderheitenrechte ist die Lage in Kroatien viel besser als vor 20 Jahren. Auf der anderen Seite gibt es extrem viel Korruption. Es geht um Beziehungen, Parteipolitik und Geld. Wir sind die erste der neuen Demokratien, in der ein Premierminister wegen Korruption hinter Gittern gelandet ist.

Stellen Sie eine Verbesserung beim Kampf gegen die Korruption fest?

Es gibt Verbesserungen in jeder Hinsicht. Wenn man am Ground Zero steht, ist es ein Riesenfortschritt, wenn man es auf Level drei schafft. Die Anpassung an die europäischen Gesetze hilft, aber es ist ein langsamer und schmerzhafter Prozess.

Wie läuft dieser Prozess ab?

Es gibt einen großen Unterschied zwischen Politik und Mentalität. 1989 wurde das politische System verändert, die Personen sind aber dieselben. Das merkt man ganz besonders stark, wenn es um die historische Erinnerungskultur geht - die "offizielle Geschichte" unterscheidet sich von dem, woran sich die Menschen erinnern. Wenn wir in dieser Region in Frieden leben wollen, dann brauchen wir ein Minimum an Geschichte, das wir alle gemeinsam akzeptieren können. Alle, auch die Serben, müssen akzeptieren, dass in Srebrenica ein Genozid stattgefunden hat und dass Vukovar von der Jugoslawischen Volksarmee, der in erster Linie Serben angehört haben, zerstört wurde. Ohne dieses Minimum wird es sehr schwer, selbst für die junge Generation.

Im Streit um kyrillische Ortstafeln in Vukovar kann man als Außenstehender beide Seiten verstehen: die Serben, die wollen, dass die Minderheitenrechte eingehalten werden und sie kyrillische Schilder bekommen, und die Kroaten, für die die Erinnerungen an die serbischen Verbrechen noch frisch sind.

Wie lange muss etwas her sein, damit es nicht mehr frisch ist? Es gibt es ein Gesetz, das im Parlament beschlossen wurde. Auf der anderen Seite wird das Gesetz von Menschen gemacht, ist also nicht unveränderbar. Die Leute, die es nicht wollen, sollen nicht demonstrieren, sondern nachdenken, wie man das - zum Beispiel durch Petitionen - ändern kann.

Apropos Petitionen: Einer Initiative ist es gelungen, 900.000 Unterschriften zu sammeln, damit die Ehe in der Verfassung als heterosexuelle Institution definiert wird . . .

Es geht dabei nicht um die Homosexuellen-Ehe an sich. Die Menschen sind durch so viele andere Dinge - Armut, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit - frustriert. Serben und Homosexuelle sind in Kroatien die Sündenböcke. Wenn die großen Parteien die realen Ängste der Bevölkerung ignorieren, können sie leicht von anderen manipuliert werden.

Gibt es ein Comeback der Religion in Kroatien?

Religion spielte im Krieg eine enorme Rolle für die Identifikation, das ist so geblieben. Kroatien ist eines der katholischsten Länder Europas, mehr als Polen oder Irland. Die Menschen identifizieren sich als "katholisch", um sich von den Serben und den Bosniaken abzuheben. "Katholisch" und "kroatisch" werden synonym gebraucht. Ich glaube aber nicht, dass so viele Kroaten Katholiken sind, die Kirchen sind leer.

Bei der Jugendarbeitslosigkeit steht Kroatien europaweit an dritter Stelle. Wie geht es den Leuten damit?

Manche Kommentatoren glauben, dass die Jungen gar nicht arbeiten wollen. Es gibt eine sehr starke patriarchale Kultur in Kroatien. Die Familie beschützt die Kinder und hält sie zu Hause fest. 80 Prozent der Kroaten sind Wohnungseigentümer, die Eltern sehen es als ihr Lebensziel an, den Kindern Wohnungen zu kaufen. Wenn man in so einer Wohnung sitzt, zu den Eltern essen geht und auch noch Geld für Kaffee, Zigaretten und Benzin bekommt, sucht man dann ernsthaft nach einem Job?

Momentan leben wir noch vom Familiensilber aus dem Sozialismus: Die Menschen haben Geld verdient, hatten aber keine Möglichkeit, es auszugeben, und haben daher Besitz akkumuliert. Bald gibt es aber keine Jobs mehr für die Eltern. Kroatien steuert auf sehr schlechte Zeiten zu.

Gibt es staatliche Initiativen, um die Jungen in den Arbeitsprozess zu integrieren?

Ja, aber damit so etwas funktioniert, braucht man eine Art von Wirtschaft - und in Teilen Kroatiens gibt es keine Produktion.

Wird sich das mit der EU-Mitgliedschaft ändern?

Die Idee war, dass mit der Mitgliedschaft mehr Investitionen kommen. Allerdings verhindern Wirtschaftskrise und die Bürokratie im Land solche Investitionen.

Freuen sich die Kroaten überhaupt über den EU-Beitritt?

Die Menschen haben sich auf Investitionen gefreut. Viele waren auch dagegen, weil sie dachten, dass wir zu Sklaven im eigenen Land werden. Die Erwartungen waren höher als realistisch möglich, die meisten schätzen diese Frage aber nicht als relevant ein.

Es ist ihnen egal?

Im Moment ja. Die Frage lautet: "Wir sind in der EU - und was jetzt?" In anderen Worten: "Wo ist das Geld?" Die Menschen müssen verstehen, dass sie sich selbst bewegen und die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen. Ihnen reicht aber die kleine Sicherheit: Nicht bewegen, Kaffee trinken und nichts tun - es ist perfekt. Und die Wirtschaft stagniert.

Das klingt, als ob Kroatien das nächste Griechenland sein könnte.

Ja, so klingt es. Die Regierung behauptet, es gebe Bewegung, aber keiner sieht Resultate. Die nächste Regierung wird konservativ, aber die Konservativen sind noch schlimmer, die haben das Land schon geplündert. Bei allen schlechten Perspektiven muss man beachten, dass wir noch vor 20 Jahren im Krieg waren, das wirft ein Land immer zurück.

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Slavenka Drakuliæ

Geboren 1949 in Rijeka, hat Slavenka Drakulić Kommunismus und Krieg in Kroatien erlebt. Ihre Romane und Sachbücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Ihr Buch "Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht" wurde 2005 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Drakulić ist verheiratet und lebt in Stockholm, Zagreb, Berlin und Wien.

Dieser Beitrag ist im Rahmen von "Eurotours" entstanden. Das Programm gibt Journalisten die Möglichkeit, bis zu eine Woche in einen anderen EU-Staat zu reisen und dort zu recherchieren. Finanziert wird es von der Europa-Partnerschaft (Vertretung der EU-Kommission, Informationsbüro des EU-Parlaments, Kanzleramt, Außenministerium) in Kooperation mit dem Kuratorium für Journalistenausbildung.