Neo Iraklio. Am Tag danach scheint die Sonne. Es ist ein lauer Herbsttag. So als sei nichts Schlimmes hier passiert. Irrtum. Hier, in der immerzu pulsierenden Leoforos Irakliou-Strasse mit seinen vielen Geschäften im nördlichen Athener Vorort Neo Iraklio an der Ecke Megalou Konstantinou-Strasse, ist es an diesem Samstagmorgen auffallend still. Was hier nun vorherrscht, ist eine massive Polizeipräsenz - immer noch. Das Areal ist weiträumig abgesperrt, die Anti-Terror-Einheit sucht immer noch nach Spuren - immerhin mehr als 15 Stunden nach der schrecklichen Tat.
Am Freitagabend, kurz nach 19 Uhr Ortszeit, als sich schon die Nacht über Athen gelegt hatte, treffen zwei Unbekannte mit einem Motorrad am Tatort ein. Auf dem Bürgersteig, direkt vor dem lokalen Parteibüro der rechtsextremen Goldenen Morgenröte, stehen vier junge Männer. Auf der Strasse herrscht Hochbetrieb. Nicht zuletzt weil das Morgenröte-Büro im ersten Stock des Gebäudes wegen einer Parteiveranstaltung geöffnet ist, wie an jedem Freitag.
Einer der Unbekannten, einen Jockey-Hut tragend, steigt vom Motorrad ab. Mit schnellen Schritten nähert er sich den vier jungen Männern. In nur wenigen Sekunden feuert er mit einer Pistole vom Typ Zastava aus nächster Nähe mehrere Schüsse auf die Gruppe ab. Einer der Opfer hat grosses Glück. Die Schüsse verfehlen ihr Ziel. So kann der junge Mann unverletzt ins nahe gelegene Parteibüro flüchten. Die Polizei findet am Tatort später zwölf Patronen. Sie stammen alle aus der Zastava-Pistole. Wie die ballistische Untersuchung unterdessen ergab, war die betreffende Schusswaffe noch nicht zuvor bei einer Straftat benutzt worden.
Der Täter ergriffen sofort die Flucht. Offensichtlich hatten sie ihre Tat gründlich vorbereitet. Denn nur rund 200 Meter vom Tatort entfernt befindet sich die lokale Polizeistation in Neo Iraklio. Die Täter machten sich mit dem Motorrad mit Vollgas aber in Gegenrichtung aus dem Staub. Von ihnen fehlt bis dato jede Spur.
Sie hinterliessen zwei Tote: Manolis Kapelonis, Geburtsjahr 1991, und Georgios Foudoulis, Geburtsjahr 1986, waren schon tot, als man sie ins nahe gelegene Aghia Olga-Krankenhaus einlieferte. Beide seien, wie der Morgenröte-Abgeordnete Ilias Panagiotaros nach dem Doppelmord im griechischen Rundfunk sagte, Mitglieder der rechtsextremen Partei gewesen."Sie haben meinen Sohn wie ein Lamm geschlachtet", sagte der Vater von Georgios Foudoulis.
Das dritte Opfer, der 29 Jahre alte Alexandros Gerontas, ebenfalls von mehreren Kugeln getroffen, wurde umgehend ins Athener Genimatas-Krankenhaus gebracht. Dort musste er sich noch in der Nacht einer vierstündigen Notoperation unterziehen. Gerontas, der Vater eines Kindes ist, schwebe noch in Lebensgefahr, sagte der leitende Chirurg Renos Chatzigeorgiou am Sonntagmorgen. Seine Mutter erklärte derweil im griechischen Rundfunk, ihr Sohn sei "kein glühender Anhänger" der Goldenen Morgenröte. Gleichwohl habe ihm "das Gedankengut der Rechtsextremen gefallen", fügte sie hinzu.
Die Täter würden "aus dem linken politischen Spektrum" stammen, sagte Panagiotaros. Er stützte seine These darauf, dass die Täter in Richtung ihrer Opfer noch geschrien hätten:"Faschisten, ihr werdet sterben!" Fest steht jedenfalls: Handfeste Beweise über die Herkunft der Täter gibt es bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Bis zum Sonntag lag kein Bekennerschreiben zu dem kaltblütigen Mord auf offener Strasse vor. Dennoch: die Athener Behörden gehen von einem politisch motivierten Terrorakt aus. Experten zufolge sei die Tat "professionell ausgeübt worden". Die Analysten sind sich einig: Der Tathergang zeuge von einem "hohen operativen Einsatzvermögen". Weitere Hinweise auf die Täter erhoffen sich die Behörden von einem etwa zehn Sekunden langen Video einer Sicherheitskamera. Das audiovisuelle Material habe er gesehen und noch am Freitagabend persönlich den Behörden zur Auswertung übergeben, erklärte der Morgenröte-Sprecher und Abgeordnete Ilias Kasidiaris. "Das war eine "Exekution", so Kasidiaris.
Fest steht: Nach der Aushebung von Griechenlands bisher gefährlichsten Terrororganisation "17. November" im Sommer 2002 hatte sich zuletzt die im Jahr 2009 erstmals in Erscheinung getretene Terrororganisation "Sekte der Revolutionäre" ("Sechta Epanastaton") zu den Morden an den Polizisten Nektarios Savvas während des Dienstes am 17. Juni 2009 im Athener Stadtteil Patissia sowie an den Journalisten Sokrates Giolias am 19. Juli 2010 vor seiner Wohnung im Athener Vorort Ilioupolis bekannt. Beide Morde erinnern an die Vorgehensweise beim Doppelmord in Neo Iraklio. Der landesweit bekannte Journalist Giolias wurde mit 16 Kugeln niedergeschossen - ebenfalls aus nächster Nähe, ebenfalls mit einer Zastava-Pistole.
Diesmal traf es unbekannte Opfer. Dennoch: Erwartungsgemäss schlug der Doppelmord in Neo Iraklio hierzulande hohe Wellen. Diverse Beobachter stuften ihn kurzerhand als Racheakt für den kürzlichen Mord an den linksgerichteten HipHop-Sänger Pavlos Fyssas ein. Es könnte gar zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen politisch radikalen Kräften im Lande kommen, so lautet das Horrorszenario. Hintergrund: Der bekennende Anti-Faschist Fyssas war in der Nacht zum 18. September von einem mutmasslichen Morgenröte-Anhänger vor einem Cafe im südwestlichen Athener Vorort Keratsini erstochen worden.
Die Athener Regierung unter dem konservativen Premierminister Antonis Samaras hatte den tragischen Vorfall am 18. September zum Anlass genommen, plötzlich eine harte Gangart gegen die Rechtsextremen einzuschlagen. Am 28. September wurden zunächst sechs Morgenröte-Abgeordnete festgenommen. Parteichef Nikos Michaloliakos, der informelle Partei-Vize Christos Pappas und der Abgeordnete Jannis Lagos sitzen seither in U-Haft. Allen wird die Bildung einer kriminellen Organisation vorgeworfen. Unterdessen ist zudem die staatliche Parteienfinanzierung an die Goldene Morgenröte eingestellt, obgleich die Rechtsextremen bei den jüngsten Parlamentswahlen mit knapp sieben Prozent der Stimmen und 18 Abgeordneten erstmals ins Athener Parlament eingezogen sind.
Die Athener Regierung verurteilte die Tat in Neo Iraklio jedenfalls prompt aufs Schärfste."Das ist ein skrupelloses Verbrechen. Wir verurteilen jede Gewalt, egal woher sie stammt, egal wen sie als Ziel hat", hiess es dazu in einer offiziellen Pressemitteilung der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia. Die mitregierenden Pasok-Sozialisten riefen zur Besonnenheit auf."Der Gewalt stellen wir Demokratie und Legalität entgegen", so die Pasok. Die bis zum Juni mitregierende Demokratische Linke (Dimar) stiess ins gleiche Horn. Es gelte "den Teufelskreis der Gewalt und des Bluts zu durchbrechen", so die Dimar. Der Dimar-Abgeordnete und renommierte Gewaltforscher Jannis Panousis erklärte:"Das Problem ist nicht, was sich die Täter dabei gedacht haben. Die Frage ist, was will die Demokratie tun, um diesem Phänomen Herr zu werden."
Griechenlands führende Oppositionspartei, das "Bündnis der Radikalen Linken" (Syriza), warnte indes: "Die Morde (in Neo Iraklio) schaffen ein Klima der Destabilisierung. Die Demokratie wird ins Visier genommen". Auch der Vorsitzende der Oppositionspartei "Unabhängige Griechen" (Anel), Panos Kammenos, legte den Finger in die Wunde."Einige bereiten sich darauf vor, das Land in einen Bürgerkrieg zu führen", sagte er. Die wahren Urheber für die jüngsten, offenbar politisch motivierten Morde im krisengebeutelten Hellas sieht Kammenos, ein erklärter Gegner des in seinen Augen hierzulande seit Krisenbeginn herrschenden Spardiktats aus Berlin, indes unverblümt im Ausland. In Richtung von Griechenlands öffentlicher Geldgeber-Troika aus EU, EZB und Internationalem Währungsfonds (IWF) sagte Kammenos: "Wir rufen die Griechen zur Einheit, Eintracht und zum nationalen Widerstand gegen diejenigen auf, die Zwietracht säen, um die nationale Souveränität auszuhebeln".
Dies sah die Athener Presse etwas differenzierter."Provokation! Zwölf Kugeln gegen die Demokratie", titelte in grosser Aufmachung die auflagenstärkste Athener Tageszeitung "Ta Nea" in ihrer Samstagsausgabe. Die Schlagzeile des Syriza-Parteiblattes "Avgi" lautete:"Provokation mit zwei Toten".
Derweil schiebt die Goldene Morgenröte die Schuld an dem Doppelmord in Neo Iraklio der "antigriechischen Regierung von Antonis Samaras" zu. Zuletzt wiederholt von der Morgenröte vorgetragene Anliegen, wonach auch die lokalen Parteibüros wie in Neo Iraklio unter Polizeischutz zu stellen seien, da sie nach ihrer Ansicht "eine permanente Zielscheibe für Terroristen" darstellten, habe die Regierung kategorisch abgelehnt. In der Tat: In den letzten Monaten sind im Grossraum Athen bereits zweimal auf Parteibüros der Morgenröte Bombenanschläge verübt worden - jeweils aber ohne Personenschaden. Das Parteibüro in Neo Iraklio sei jedoch just an jenem Freitagabend fatalerweise unbewacht geblieben, klagt nun die Morgenröte.
Überdies habe die Regierung nach dem Mord an Fyssas ihren Abgeordneten den ihnen gesetzlich zustehenden Polizeischutz widerrechtlich entzogen, moniert die Morgenröte. Und: Nur wenige Stunden vor dem Doppelmord in Neo Iraklio seien mehrere Abgeordnete von den Behörden dazu aufgefordert worden, ihre Waffenschein samt Schusswaffe abzugeben. Dies geschehe, obschon die Regierung nach dem Mord an Fyssas systematisch eine von griechischen Leitmedien unterstützte Hetze gegen die Morgenröte betreibe.
Die Abgeordnete Eleni Zaroulia, Ehefrau von Parteichef Nikos Michaloliakos, kam der behördlichen Aufforderung am Samstagmittag in der Polizeistation in ihrem Wohnort im nördlichen Athener Vorort Pefki nach. Sie nutzte ihren Auftritt medienwirksam. Demonstrativ hielt sie ihre Schusswaffe in die laufenden Kameras. Unverhohlen forderte Zaroulia den Rücktritt des konservativen Bürgerschutzministers Nikos Dendias."Er ist schlicht unfähig. Dendias hätte schon gestern abend zurücktreten müssen", sagte sie.
Spontane Massenproteste wie nach dem Mord an Fyssas blieben diesmal in der Vier-Millionen-Metropole Athen aber aus. Die Goldene Morgenröte rief zur Ruhe auf. Am Samstagabend folgten einige Hundert Menschen einem Aufruf der Rechtsextremen, sich zum Gedenken an Kapelonis und Foudoulis am Tatort einzufinden. Die Anwesenden liessen Blumen nieder, hielten brennende Kerzen in der Hand und sangen die griechische Nationalhymne. Es blieb friedlich.
Mögliche Unruhen hin, drohende politische Destabilisierung her: Dem leidgeprüften Griechenland stehen auch in den nächsten Tagen möglicherweise turbulente Tage bevor. Am Dienstag werden die Chefkontrolleure der ungeliebten Geldgeber-Troika in Athen erwartet, um die seit Wochen unterbrochene Prüfung der Bücher fortzusetzen. Für den Mittwoch haben die Dachgewerkschaft der Privatangestellten (GSEE) und die Beamtengewerkschaft (ADEDY) zu einem neuerlichen 24-stündigen Generalstreik aufgerufen. Landesweite Protestaktionen gegen die Fortsetzung des rigorosen Sparkurses der Athener Regierung sind bereits angekündigt. Die Veranstalter versichern: Die Proteste werden friedlich bleiben.