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Türkei mit neuem Selbstbewusstsein Richtung Normalität?

Von WZ-Korrespondentin Linda Say

Politik

Wirtschaftswachstum lockt Investoren trotz politischer Unruhen an.


Istanbul. "Frauen und Männer dürfen nicht unter einem Dach leben", ließ der türkische Premierminister Tayyip Erdogan kürzlich verkünden. Erneut liefert das Thema Geschlechtertrennung Zündstoff für heiße Diskussionen und rückt den erst vergangene Woche groß gefeierten Marmaray-Tunnel, der unter dem Bosporus den asiatischen mit dem europäischen Kontinent verbindet, in den Hintergrund. Ob dies von dem pannenreichen Start des 2,5 Milliarden Euro teuren Projektes ablenken soll, sei dahingestellt. Sicher ist, dass sich nun auch Widerstand in den Reihen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP regt. Fatma Bostan Ünsal, eine der Mitbegründerinnen der AKP, stuft die Sittenwache Erdogans als "gefährlich" ein und auch andere namhafte Parteikollegen wie Ertugrul Günay und Idris Bal haben sich gegen eine solche Maßnahme ausgesprochen.

Während die Wogen hochgehen, laufen aufwendige Infrastrukturprojekte auf Hochtouren. Trotz außen- und innenpolitischer Spannungen sowie eines Rückgangs des Wirtschaftswachstums von acht Prozent 2012 auf heuer 2,5 bis drei Prozent mangelt es nicht an Investoren. "Das Interesse, in der Türkei Geschäfte zu machen, ist nach wie vor sehr groß. Ein Wachstum von drei Prozent ist für westeuropäische Standards gut genug", so die Einschätzung von Marco Garcia, österreichischer Wirtschaftsdelegierter in Istanbul. Ein schwieriger Markteinstieg und zu viele Marktteilnehmer seien eher Gründe, sich gegen die Türkei zu entscheiden. "Selbst das diesjährige Budgetdefizit von 60 Milliarden Dollar würde das Land in den nächsten Jahren nicht destabilisieren", so Garcia.

Vor nächstem Wahlsieg

"Betrachtet man die Geschichte der Republik, ist eines unverkennbar: Das Land ist auf dem Weg zur Normalisierung", sagt Osman Cevdet Akçay, Chefökonom der Yapi Kredi Bank, einem Mitglied der Unicredit Group. Dieser Pfad Richtung Norm ist es, der den türkischen Markt international attraktiv macht.

"Investoren, die langfristig denken, lassen sich von den Einbußen bei den Aktien und Devisen nicht verschrecken. Der Markt ruht auf einem starken Fundament und ist dabei, sich zu regenerieren", ist Akçay zuversichtlich. Dass Erdogan und seine AKP immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt sind, beschreibt er als Geburtswehen, die kurz vor der Geburt eben am heftigsten sind und verweist auf die Proteste im vergangenen Sommer. Diese würden sich bei den kommenden Kommunalwahlen 2014 nicht negativ auf das Wahlergebnis der AKP auswirken. Im Gegenteil: Die Schulden im öffentlichen Sektor liegen mit nur 36 Prozent weit unter den 60 Prozent der Maastricht-Kriterien. "Das zeigt, dass die Regierung richtige Politik betreibt und erklärt, warum die EU nach wie vor in die Türkei investiert", so Akçay.

"Die Gezi-Proteste haben gezeigt, wie verletzlich die Regierung Erdogans ist und wie unzufrieden die Menschen mit seiner Art zu regieren sind. Deshalb wird der Premier im Wahlkampf auf das Selbstbewusstsein, dass er durch den wirtschaftlichen Aufschwung bewirkt hat, bauen", so Kerem Türközü von der türkischen Menschenrechtsstiftung in Ankara. Türközü interpretiert den derzeitigen Fingerzeig Erdogans Richtung Jugend als eine Art Vergeltungsakt. Dass eine gesetzliche Regelung in Kraft tritt, bezweifelt er: "Erdogan hat auch während der Gezi-Proteste die Eltern dazu aufgerufen, ihre Kinder im Zaum zu halten. Dies ist nur ein weiterer Aufruf an die Eltern, ihre Schützlinge zu kontrollieren. Damit will Erdogan verhindern, dass die Massen wie im Sommer auf die Straßen strömen, um gegen ihn zu protestieren."

Sowohl Türközü als auch Chefökonom Akçay rechnen mit einem Sieg der AKP bei den kommenden Kommunalwahlen. Diese Aussichten lassen vermuten, dass sich die AKP von ihrem Modernisierungskurs - zumindest bei der Stadtplanung - nicht abbringen lassen wird. Dass dieser Kurs auch Platz für nicht-ökonomische Werte übrig lässt, bleibt zu hoffen.