Zum Hauptinhalt springen

Auf der Suche nach Hoffnung

Von Gerhard Lechner

Politik

Das schwer angeschlagene Land ringt um eine Annäherung an die EU.


Kiew/Wien. Höhere Löhne. Soziale Absicherung. Eine qualitativ bessere medizinische Versorgung. Gute Ausbildung. Und den Zugang zu Krediten. Das alles soll die Europäische Union der Ukraine bringen - jedenfalls wenn es nach Oppositionsführer Arseni Jazenjuk geht. Der 39-Jährige, der nach der Inhaftierung Julia Timoschenkos deren Partei "Vaterland" interimistisch leitet, wirbt auf Facebook mit materiellen Vorteilen für den Abschluss des Assoziierungsabkommens mit Brüssel. Sieben Tage bleiben der Regierung von Präsident Wiktor Janukowitsch noch, um bis zum Gipfel der EU-Ostpartnerschaft in Vilnius am 28. und 29. November eine zufriedenstellende Lösung im Fall Timoschenko zu präsentieren. Dass die wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilte 53-Jährige immer noch in Haft ist, blockiert bisher die Inkraftsetzung des seit zwei Jahren fertig verhandelten Abkommens.

Dass der junge, prowestliche Ex-Außenminister Jazenjuk in den letzten Tagen statt auf pathetische Zugehörigkeitsschwüre zu Europa auf materielle Versprechungen setzt, ist kein Zufall. Denn je näher für die Ukraine der Moment der geopolitischen Entscheidung zwischen dem alten Hegemon Russland und der EU rückt, umso nervöser wird die Stimmung im Land. Lange Zeit war man von einer stabilen Zustimmung in der Bevölkerung für eine Anbindung an die Europäische Union ausgegangen.

Rückzug der Investoren

In letzter Zeit hat sich aber Unsicherheit breitgemacht. Dem Land geht es wirtschaftlich schlecht, die Ukraine befindet sich de facto seit Mitte 2012 in einer Rezession. Und auch für das Jahr 2013 erwarten Beobachter keine Erholung. Der für die ukrainische Exportwirtschaft sehr wichtige Stahlsektor kämpft derzeit mit extrem niedrigen Preisen, der Maschinenbau kränkelt nicht zuletzt aufgrund der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in Russland. Dazu ziehen sich ob der unsicheren Lage immer mehr Auslandsinvestoren aus der Ukraine zurück. Erst diese Woche bestätigte die börsenotierte Raiffeisen Bank International (RBI), dass sie beabsichtigt, ihre ukrainische Tochter, die Aval Bank, abzustoßen. Mögliche Interessenten für ukrainische Banken kommen in der Regel aus Russland oder der Ukraine selbst. Raiffeisen hat seinen Personalstand im Hoffnungsland am Dnjepr in den letzten Jahren bereits deutlich reduziert: Heute beschäftigt der Konzern rund 13.500 Mitarbeiter, ein Fünftel weniger als vor fünf Jahren. Und Raiffeisen ist nur ein Beispiel: Viele namhafte westeuropäische Banken, die in Osteuropa aktiv sind, ziehen sich aus der Ukraine zurück - so die schwedische Swedbank, die französische Societe Generale, die deutsche Commerzbank und nicht zuletzt auch die österreichische Erste Bank.

Beobachter verweisen aber auch immer wieder auf eklatante Versäumnisse der Regierungspolitik in Kiew: Zwar hätte die Ukraine großes Potenzial, heißt es aus österreichischen Wirtschaftskreisen, aber es gäbe nach wie vor massive Probleme, etwa im Bereich Rechtssicherheit. So betonen auch Gunter Deuber und Andreas Schwabe, zwei Analysten der RBI, in einem vor kurzem publizierten Aufsatz, dass der Rückzug der EU-Banken aus der Ukraine nicht nur der immer noch schwelenden weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise geschuldet ist, sondern auch "länderspezifische Gründe" hat. Sie führen an, dass der Marktanteil der nicht russischen Auslandsbanken von 2008 bis 2013 von etwa 40 auf 17 Prozent gesunken ist. "Der Rückzug aus der Ukraine hängt auch mit zahlreichen Rechtsstreitigkeiten mit Zollbehörden, Wettbewerbsbehörden oder fragwürdigen Enteignungen zusammen", schreiben die Banker. Und sie führen weiter aus: "Hier sind sogar Schwergewichte wie ArcelorMittal, McDonalds, Metro, Swissport oder Porsche betroffen, was Bände für das Geschäftsumfeld für kleinere ausländische Unternehmen im Lande spricht." Auch andere Quellen aus der österreichischen Wirtschaft sprechen von anhaltenden Problemen mit Steuerbehörden, von plötzlich anberaumten Hausdurchsuchungen und schwer nachvollziehbaren Gerichtsurteilen.

Keine echten Reformen

Die Situation für Präsident Janukowitsch, der sein Amt 2010 nach der schwersten Wirtschaftskrise der Ukraine seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion übernahm, ist also keine rosige. 2010 und 2011 war es dem Präsidenten aus dem ostukrainischen Donbass noch gelungen, die Ukraine ohne große Reformen in ruhigere Gewässer zu führen. Mittlerweile macht sich der Mangel an Strukturreformen seiner Regierung aber deutlich bemerkbar. Die Staatsschulden der Ukraine betragen fast 40 Prozent des BIP - 2007 und 2008 lag die Schuldenquote noch bei 10 bis 20 Prozent. Janukowitsch wird sich schwertun, seine Politik des "Durchwurstelns", wie sie Deuber und Schwabe treffend nennen, bis zur Präsidentenwahl 2015 durchzuhalten. Der Präsident braucht mindestens 10 Milliarden Dollar, um den Staatsbankrott der Ukraine zu vermeiden. Es stehen große Rückzahlungen an, die Regierung muss auch Schulden im Inland zahlen - beispielsweise ausständige Gehälter oder Stipendien. Und Janukowitsch hat 2010 im Wahlkampf "gerechte Pensionen" versprochen - Sozialkürzungen kann und will er wohl auch vor dem Wahltermin Anfang 2015 keine verantworten. Geldquellen für die Ukraine gibt es im Prinzip nur zwei: den Internationalen Währungsfonds (IWF) oder eben Russland. Die EU, die das Geld nicht aufbringen kann, erhöhte am Mittwoch den Einsatz im geopolitischen Machtspiel mit Russland und erklärte, ein Abkommen mit der Ukraine über Gaslieferungen sei fertig verhandelt. Das Land soll über die Slowakei beliefert werden.

Zahlreiche Hindernisse

Noch ist es offen, ob Kiew am 28. November in Vilnius das Assoziierungsabkommen mit Brüssel unterschreibt. Der Vertrag mit der EU würde Kiew zwar enger an Europa binden. Er würde, geben sich manche Experten überzeugt, dem Land auch mittel- und langfristige Vorteile bringen, etwa eine Eindämmung der Korruption im Justizwesen. Das seit zwei Jahren auf Eis liegende Abkommen sieht unter anderem die Angleichung der Handels- und Sanitätsstandards an die der EU vor - das würde, zeigt sich der Kiewer Politologe Kyryl Savin überzeugt, der Ukraine langfristig auch viele Märkte öffnen, da die EU-Standards weltweit anerkannt sind. Allerdings lindern diese langfristigen Vorteile nicht die kurzfristigen, sehr konkreten Budgetnöte des Landes. Es ist im Gegenteil wahrscheinlich, dass das Abkommen, würde es umgesetzt, dem Land zunächst einmal ein paar Schwierigkeiten bereiten würde. Der Pakt sieht eine Freihandelszone vor, die zwar auch für ukrainische Produkte die Märkte der EU öffnet, aber umgekehrt auch den ukrainischen Markt für EU-Unternehmen. Vor allem der Lebensmittel- und Automobilmarkt könnte unter Druck kommen. "Es hat bereits vereinzelt Demonstrationen auch gegen das Abkommen gegeben", sagt Susan Stewart, Ukraine-Expertin an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. "Vor allem im russlandfreundlichen Osten des Landes haben viele Leute Angst um ihre Stellen", sagt Stewart der "Wiener Zeitung". Und Savin ergänzt, dass "das auch eine Generationenfrage" sei. Ältere, in der Sowjetzeit aufgewachsene Menschen verhalten sich der EU gegenüber deutlich reservierter als die Jugend des Landes. Dass relevante Gruppen in der Ukraine das Abkommen fürchten, ist jedenfalls wahrscheinlich: Eine funktionierende Reform des Systems würde eingespielten Beziehungsnetzen in Wirtschaft und Politik in die Quere kommen.

Janukowitsch in Wien

Und auch das aus Sowjetzeiten stammenden "Natschalnik"-Verwaltungssystem müsste dann hinterfragt werden - mit seiner ererbten Mischung aus Passivität und autoritärem Führungsstil.

Vor allem aber ist weiterhin unklar, ob in der ukrainischen Führung ein ernster politischer Wille besteht, schmerzhafte Reformen durchzuführen und sich an die EU auch abseits reiner Geldfragen anzunähern. Heute Donnerstag könnte im Parlament in Kiew eine Antwort auf diese Frage gegeben werden, indem eine Entscheidung über das Schicksal Timoschenkos fällt - während Janukowitsch in Wien weilt. Er spricht mit Bundespräsident Heinz Fischer und Außenminister Michael Spindelegger über die Situation in seinem Land. Und er eröffnet ein österreichisch-ukrainisches Wirtschaftsforum.