Kiew. (leg/vee) "Vsi na Maidan!" - alle auf den Unabhängigkeitsplatz, den Maidan. So lautet derzeit unisono die Parole der prowestlichen Kräfte in Kiew. Nach dem Schwenk der ukrainischen Regierung Richtung Russland ist unter den Anhängern der Opposition zorniger Frust ausgebrochen. Kaum jemand, der auf eine Anbindung des in einer schweren Krise steckenden Landes - es verhandelt aktuell über ein bis zu 15 Milliarden US-Dollar schweres Hilfspaket mit dem Internationalen Währungsfonds - an die EU hofft, versteht den Schritt von Präsident Wiktor Janukowitsch. Dass es nicht Brüssel war, das das lang erwartete Assoziierungsabkommen stoppte, sondern die Regierung in Kiew selbst, und das eine Woche vor der geplanten Unterzeichnung, lässt die Wogen hochgehen. In der Nacht auf Freitag kam es in Kiew bereits zu Protesten auf dem Maidan, der einst, im Herbst 2004, der "Orangen Revolution" als Bühne diente. Nun will der prowestliche Teil des Landes den "Maidan 2.0", den "Euromaidan" herbeiführen. Eine lang geplante Demonstration am Sonntag für die EU-Integration wird sich wohl zur Großdemonstration auswachsen.
Unterdessen ließ die erkrankte Oppositionschefin Julia Timoschenko, deren Inhaftierung als entscheidendes Hindernis für die EU-Ambitionen der Ukraine gilt, in einem Brief an Janukowitsch aus der Haft verlauten, sie würde auf ihre geplante Behandlung in Deutschland verzichten - wenn nur der Vertrag mit der EU unterzeichnet würde. "Wenn Sie sich zur Unterzeichnung des Abkommens entschließen, werde ich am selben Tag die europäischen Anführer bitten, den Vertrag bedingungslos zu unterschreiben", erklärte sie in Richtung des Präsidenten. Zuvor hatte Timoschenko zu Massenprotesten gegen die Regierung aufgerufen.
Die EU machte auch einen Tag nach der Entscheidung Kiews einen ratlosen Eindruck. Pat Cox und Aleksander Kwasniewski, die als EU-Gesandte fast 30 Mal nach Kiew reisten, drückten ihre "tiefe Enttäuschung" über den Schwenk aus. Für Brüssel ist unklar, wie es jetzt mit der Ukraine weitergehen soll. Dass Kiew auch ankündigte, den "aktiven Dialog" mit Russland über die von Moskau dominierte Zollunion wieder aufzunehmen, sorgte für zusätzliche Verstörung. Russlands Präsident Wladimir Putin dementierte, dass Druck aus Moskau zu der Entscheidung geführt hat. "Wir haben Drohungen von unseren europäischen Partnern gegen die Ukraine gehört, bis hin zu dem Punkt, ihnen bei der Organisation von Massenprotesten zu helfen", sagte Putin. "Dies ist Druck, dies ist Erpressung."
Wirtschaft in "Schockstarre"
Wirtschaftstreibende in der Ukraine befinden sich nach der "sehr überraschenden" Abwendung vom EU-Integrationsprozess indes in einer "Schockstarre", sagt Siegfried Weidlich, stellvertretender Wirtschaftsdelegierter in Kiew, zur "Wiener Zeitung". Viele ausländische Firmen hatten sich Fortschritte und weitere Reformen im Justizbereich und der Fiskalpolitik erwartet. Österreich ist der fünftgrößte Auslandsinvestor in der Ukraine, die Investitionen stagnieren aber seit dem Vorjahr. Mit der Entscheidung würden heimische Firmen, die ein Ukraine-Engagement im Visier hatten, wohl wieder weiter zuwarten, sagt Weidlich.