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Eine Regierung, drei Erzählungen

Von Alexander Dworzak

Politik

SPD weicht eigene Agenda 2010 zugunsten der Stammwähler auf.


Berlin. Nach einem Verhandlungsmarathon über 17 Stunden hatte man blasse und müde, aber zufrieden blickende Gesichter erwartet. Beinahe aufgedreht wirkten jedoch SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel und sein CSU-Konterpart Horst Seehofer am Mittwoch, als sie vor die Medienvertreter traten, um das intern besiegelte Koalitionsabkommen zu präsentieren; sogar die sonst so spröde Angela Merkel konnte sich manch Lächeln nicht verkneifen. Sogar die anwesenden Journalisten hatten ihren Spaß, schließlich nahm die Kanzlerin bei der Pressekonferenz hinter dem Namensschild "Seehofer" Platz.

Der Fauxpas wurde nach einigen Minuten korrigiert, das Schild ausgewechselt. Wesentlich länger Bestand, nämlich die kommenden vier Jahre, soll der Inhalt des ausgehandelten Koalitionsvertrags haben. Beide Parteien sind mit teils unverrückbaren Vorstellungen vor einem Monat in die Verhandlungen gegangen, und beide können nun ohne Gesichtsverlust vor ihre Parteimitglieder treten.

Die Rechnung dafür tragen die deutschen Steuerzahlen: Auf 23 Milliarden Euro bis zum Jahr 2017 summieren sich die avisierten Mehrausgaben von Schwarz-Rot. Fünf Milliarden davon fließen in Hochschulen und sonstige Bildungsprojekte, drei Milliarden in Forschung und Entwicklung und weitere fünf Milliarden in die teils marode Verkehrsinfrastruktur. "Deutschland muss seinen Wohlstand sichern", rechtfertigte Merkel am Mittwoch die Mehrkosten. Die Kanzlerin versucht zu kaschieren, dass die CDU in der letzten Verhandlungsnacht ihre maximale Ausgabenobergrenze von zusätzlich 16 Milliarden Euro deutlich in die Höhe geschraubt hat. Woher das Geld für die Investitionen kommen soll, ist die große Unbekannte der Koalition. Noch dazu verpflichtet sich die Regierung zur Eindämmung der Staatsschulden und will bereits 2015 ein ausgeglichenes Haushaltsbudget vorlegen. Als Langfrist-Projekt steht die zähe Neuordnung des Länderfinanzausgleichs auf dem Programm - derzeit alimentieren Bayern, Baden-Württemberg und Hessen die restlichen Bundesländer.

Finanzpolitisches Voodoo

Bei der Alimentierung ihrer Stammwähler setzt die rot-schwarze Partnerschaft ihr finanzpolitisches Voodoo nahtlos fort: Arbeiter und Angestellte mit 45 Beitragsjahren können nach dem Willen der Sozialdemokraten mit 63 Jahren ohne Abschläge in Pension gehen. Über die Kosten dieser Maßnahme herrscht Uneinigkeit, nicht aber, wie viele Deutsche davon profitieren: Je nach alten und neuen Bundesländern liegt der Anteil zwischen 43 und 57 Prozent bei Männern und 17 bis 45 Prozent bei Frauen.

Im Gegenzug darf sich die Union auf die Fahnen heften, die sogenannte "Mütterrente" durchgesetzt zu haben. Neun Millionen Mütter mit vor 1992 geborenen Kindern erhalten dadurch mehr Geld. Die Kosten in Höhe von 6,5 Milliarden Euro jährlich werden wohl aus Beiträgen der Pensionsversicherungen finanziert. Deren Kassen seien ohnehin prall gefüllt, betonen die Großkoalitionäre. Deswegen sei auch mit Inkrafttreten der "Mütterrente" keine Anhebung der Pensionsversicherungsbeiträge zu befürchten. Gute Nachrichten gibt es auch für Geringverdiener: Sie erhalten ab 2017 eine "solidarische Lebensleistungsrente" über 850 Euro monatlich. Und sogar das CSU-Liebkind eines Betreuungsgeldes für Hausfrauen hat weiterhin Bestand. Solange die SPD in Opposition war, schimpfte sie über die sogenannte "Herdprämie". Dass das Betreuungsgeld bleibt, wertet CSU-Chef Seehofer nun als "gerechte Sozialpolitik für die kleinen Leute".

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"Hochzufrieden" ist Bayerns Ministerpräsident mit dem Koalitionsvertrag, da die Wahlversprechen der CSU eingehalten wurden. Wie kompromisslos Seehofer dabei vorging, bekamen Kanzlerin Merkel und SPD-Chef Gabriel beim Thema Pkw-Maut für ausländische Lenker auf Deutschlands Autobahnen zu spüren (siehe Artikel auf Seite 5). Dass die bayerische Schwesterpartei gerne mit breiter Brust auftritt, gehört zu ihrer DNA. Aber mit dem Triumph bei der Landtagswahl und knapp 50 Prozent für die CSU bei der Bundestagswahl in Bayern präsentieren sich die Christsozialen eigenständig und eigensinnig wie lange nicht auf dem Berliner Parkett. "Ich muss mir die Formulierung ‚CDU/CSU‘ abgewöhnen", frotzelte Sigmar Gabriel ausgerechnet bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel und Seehofer. "Es gibt eine CDU und eine CSU. Wer das nicht glaubt, soll selbst Koalitionsverhandlungen mit ihnen führen", sagte der Chef der Sozialdemokraten.

Verhältnismäßig viel erreicht

Abgesehen vom Sonderfall CSU, die regelmäßige Aufmerksamkeit und Verhandlungserfolge zur Legitimierung ihrer Existenz braucht, um nicht in der CDU aufzugehen, kann auch die SPD mit den Ergebnissen der Koalitionsverhandlungen zufrieden sein. Gemessen am Wahlergebnis vom September - die Union erreichte 41,5 Prozent, die SPD kam lediglich auf 25,7 Prozent - finden sich verhältnismäßig viele sozialdemokratische Positionen in dem Abkommen der drei Parteien wieder. Die Wahlkampfforderung nach einem bundesweit einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde haben die Genossen tatsächlich durchgebracht. Er tritt am 1. Jänner 2015 in Kraft - allerdings bestehen Übergangsbestimmungen bis 2017. Die Mindestlohn-Höhe soll in regelmäßigen Abständen von einer siebenköpfigen Kommission der Tarifpartner aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern festgelegt werden. "Der Koalitionsvertrag ist einer für die kleinen und fleißigen Leute", gibt die SPD nun die Devise aus. Übersetzung ins Deutsche: Die SPD hat der Stammklientel mit den eigenen Arbeits- und Sozialmarktreformen der Agenda 2010 zu viel zugemutet und will es jetzt wieder gutmachen.

"Die Zukunft gestalten", heißt das gemeinsame Werk und es umfasst 184 Seiten - 60 Seiten mehr als der Vertrag der vorigen Regierung zwischen Union und FDP. Das Vorhaben, ein kürzeres Abkommen als Schwarz-Gelb zustande zu bringen, ist also gescheitert. Die Liberalen haben sich aber in den vergangenen vier Jahren im Amt selbst demontiert, schafften bei der Wahl im September nicht einmal den Wiedereinzug in das Parlament. Format und Kompetenz ihrer Minister ließen nach Ansicht vieler Deutschen zu wünschen übrig - Schwarz-Rot kann hier nur gewinnen. Mit Parteichef Gabriel, dem Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier, dem Parlamentarischen Geschäftsführer Thomas Oppermann oder Manuela Schwesig, Arbeits- und Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern, stehen gleich mehrere ministrable Personen bereit. Auf eine Ministerliste oder die Ressortaufteilung muss die Öffentlichkeit offiziell noch bis Mitte Dezember warten. Denn zuvor stimmen die 475.000 SPD-Mitglieder über den Koalitionspakt ab. Geht alles glatt, wird Angela Merkel am 17. Dezember im Bundestag wiedergewählt - ihre dritte Amtsperiode wird Expermeinungen zufolge auch ihre letzte sein.

Bloß kein Triumphgeheul

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© Grafik: Wiener Zeitung

Für die sozialdemokratischen Verhandler beginnt mit dem Ende der Verhandlungen das Werben um die große Koalition und damit die Ochsentour durch die Landes- und Bezirksverbände. Parteichef Gabriel wechselt etwa von der mondänen Berliner Parteizentrale ins beschauliche Hofheim am Taunus; und nimmt bereits heute in der hessischen Kleinstadt an einer Diskussionsveranstaltung zum Koalitionsvertrag teil. Auch in den sozialen Netzwerken ist die SPD-Spitze eifrig um Zustimmung bemüht - zu bewusst ist ihr das Unwohlsein der Basis über das neuerliche Zusammengehen mit der Union. Beim Start der von 2005 bis 2009 amtierenden großen Koalition war Rot-Schwarz eine davor nur in den 1960ern praktizierte Regierungsform. Die Unkenrufe, eine große Koalition sei ob ihrer erdrückenden Mehrheit demokratiepolitisch bedenklich, hört man heute nicht - wohl aber die Sorge, als Juniorpartner erneut bei Wahlen unter die Räder zu kommen.

Die Spitzen von CDU und CSU wissen um diese Furcht der sozialdemokratischen Basis. Merkel, Seehofer - und sogar dessen "Scharfmacher" Alexander Dobrindt - geben sich handzahm. Ständig ist nunmehr vom "gegenseitigen Vertrauen" die Rede. Man verzeiht sich derzeit sogar Bösartigkeiten aus der Vergangenheit. Als ein Journalist Gabriel daran erinnert, dass CSU-Generalsekretär Dobrindt den SPD-Chef einst als "übergewichtig und inkompetent" titulierte, gibt sich der füllige Niedersachse konziliant. "Ich will nicht wissen, was ich alles in Wahlkämpfen gesagt habe. Außerdem hatte Dobrindt zur Hälfte recht - mit welchem Teil, überlasse ich Ihrer Gewichtsklasse." "Die CSU hat immer zu 50 Prozent recht", frohlockt daraufhin Seehofer, kichert im Einklang mit Gabriel. Es bleibt abzuwarten, wie lange die Hochstimmung hält.