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Die Rückkehr des Inseldenkens

Von Ronald Schönhuber

Politik

In Europa gewinnt die Devise "Mehr Macht den Nationalstaaten" an Popularität.


London/Brüssel. Besonders gut ist man auf David Cameron in Kontinentaleuropa schon seit dem Frühsommer nicht zu sprechen. Damals hatte der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllt, dass der britsche Nachrichtendienst GCHQ seinen amerikanischen Pendants bei der großflächigen Überwachung des weltweiten Internetverkehrs, in deren Zuge auch Bürger und Institutionen in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Belgien ausgespäht wurden, durchaus eifrig zur Hand ging.

Die öffentlichen Krokodilstränen, die der britischen Premier aus Solidarität zu seinen Amtskollegen in den restlichen 27 EU-Staaten vergießen musste, halfen da wenig. Für viele in Europa hatte die Abhöraktion einmal mehr klargemacht, welchen Platz in Europa sich Großbritannien zugedacht hat: London genießt zwar die Vorzüge des Binnenmarktes, doch in wesentlichen Fragen ist der transatlantische Blick nach Washington wichtiger als jener nach Paris oder Berlin.

Nur zu gut ins Bild passt es da, dass Cameron nun in dieser Woche eines der konstitutiven Prinzipien der Union infrage gestellt hat. In einem Beitrag für die "Financial Times" hatte der Premier seinen Landsleuten versprochen, den Zuzug von EU-Bürgern ins Königreich zu erschweren, Neuankömmlinge sollen unter anderem nur eingeschränkt Zugang zu Sozialleistungen wie dem Arbeitslosengeld erhalten.

Doch der kollektive Aufschrei, der London nun aus den Brüsseler Institutionen entgegenschallt, verstellt auch den Blick auf europapolitische Realitäten. Großbritannien, das laut EU-Sozialkommissar Laszlo Andor Gefahr läuft, das "hässliche Land der EU" zu werden, ist bei weitem nicht das einzige Unions-Mitglied, das sich angesichts der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien ab dem 1. Jänner in Abschottung übt.

Von rechts getrieben

Bereits im April hatten Großbritannien, Deutschland, Österreich und die Niederlande gemeinsam einen Brief an die EU-Kommission geschrieben, in dem sie die Belastung ihrer Sozialsysteme durch Migranten beklagt hatten und Brüssel aufgefordert wurde, Abhilfe zu schaffen. Und auch im neuen deutschen Koalitionsvertrag hat die CSU unter dem Titel "Armutswanderung innerhalb der EU" mehrere migrationskritische Passagen durchgesetzt. Nationales und Europarecht müssten so geändert werden, "dass Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme verringert werden", heißt es im Koalitionsabkommen unter anderem. Als konkrete Maßnahmen werden Leistungsausschlüsse für Arbeitssuchende und "die Ermöglichung von befristeten Wiedereinreisesperren" erwähnt.

Dass es gerade Großbritannien, die Niederlande und Österreich waren, die diesen Brief geschrieben haben, lässt sich vordergründig mit der innenpolitischen Situation in diesen Ländern erklären. In Großbritannien wird Cameron, der vor dem für 2015 geplanten EU-Austrittsreferendum eine Änderung der europäischen Verträge versprochen hat, von der euro-kritischen UK Independence Party vor sich hergetrieben. In den Niederlanden hat Geert Wilders bei den Wahlen im Vorjahr zwar eine herbe Niederlage einstecken müssen, doch seine Rolle als zentraler Kopf einer länderübergreifenden europafeindlichen Rechtsparteien-Allianz könnte den populistischen Islamkritiker bald schon wieder ins Spiel bringen. Und in Österreich fürchten die ehemaligen Großparteien, dass sie bei den nächsten Nationalratswahlen von der FPÖ von der Spitze verdrängt werden könnten.

Dass sich auch Deutschland zum Klub der Abschottungsfreunde gesellt hat, zeigt hingegen eine Entwicklung auf, die sich mit dem Erstarken der Rechtsparteien nur mittelbar erklären lässt. Durchaus freimütig hatte Angela Merkel das diesen Sommer in einem Interview angesprochen: Es werde zwar darüber geredet, ob Europa mehr Kompetenzen bekommen soll, sagte die deutsche Kanzlerin damals. "Wir könnten aber auch überlegen: Geben wir mal wieder was zurück?"

Dass ausgerechnet die deklarierte Europabefürworterin Merkel für eine Abkehr von Brüssel und eine Renaissance der Nationalstaaten Stimmung macht, mag auf den ersten Blick verwundern. Doch die Kanzlerin hat vier Jahre europäisches Krisen-Management hinter sich und sie hat daraus, pragamatisch, wie es eben ihrem Stil entspricht, ihre Lehren gezogen. Denn um die größten europäischen Krisenherde zu löschen, gibt es im Prinzip zwei Wege. Der eine bedeutet mehr Macht für Brüssel und in weiterer Folge auch eine europäische Wirtschaftsregierung, ein halbwegs harmonisiertes Steuersystem und eine deutliche Angleichung bei den Leistungen der Sozialsysteme. Der andere Weg belässt die Souveränität über Steuern, Wirtschaft und Haushalt bei den Nationalstaaten und stellt Fortschritte über multilaterale Verträge wie den Fiskalpakt sicher.

Eifersüchtige Regierungen

Für Letzteres dürfte aus der Sicht von Merkel - und wohl auch einiger anderer Regierungschefs - einiges sprechen. Weder in den Krisenländern, wo die Bürger Europa vor allem mit hartem Sparen verbinden, noch in den Kreditgeber-Staaten, wo ein Mehr an Vergemeinschaftung vor allem mit höherer Alimentierung assoziiert wird, gibt es derzeit großen Rückhalt für eine weitere Stärkung Brüssels. Und bei der Angleichung der politischen Systeme droht die Gefahr des Scheiterns nicht nur wegen der großen Unterschiede, sondern auch weil die nationalen Regierungen eifersüchtig über ihre Steuer- und Sozialpolitiken wachen, mit deren Hilfe sie ihre Wähler bei der Stange halten können. Weniger Brüssel und mehr Nationalstaat dürfte also nicht nur wegen David Cameron bevorstehen.