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"Plötzliche Wutausbrüche"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Politik

Aus Furcht handelt Präsident François Hollande vorsichtig statt reformerisch.


Paris. Jean-Luc Mélenchon hat seine ganz eigene Zeitrechnung. "Frankreich befindet sich im Jahr 1788", erklärt der Chef der französischen Links-Front in Anspielung auf die Phase vor dem Ausbruch der Französischen Revolution am 14. Juli 1789. Steht eine vergleichbare Volksrevolte bevor, ein neuerlicher historischer Umsturz, wie Mélenchon ihn im Ton des Revolutionsführers fordert? "Alle lehnen das Steuersystem ab, das nur die reichen Privilegierten schützt", beschreibt der Linkspolitiker den "steuerlichen Überdruss", der inzwischen zu einem feststehenden Ausdruck geworden ist. Es brodelt in Frankreich.

Im Kampf gegen die hohe Verschuldung hat Präsident François Hollande seit seinem Amtsantritt im Mai 2012 Steuererhöhungen von mehr als 30 Milliarden Euro beschlossen. Die Gesamtlast liegt über 46 Prozent des Einkommens. Ab 2014 steigt die Mehrwertsteuer von 19,6 auf 20 Prozent. Dies sowie Arbeitslosenrate von fast 11 Prozent haben Hollandes Beliebtheitswerte in den Keller rasseln lassen. In einer Umfrage stimmten nur noch 15 Prozent der Franzosen seiner Politik zu.

Angst vor einer Massenbewegung

Populisten wie Marine Le Pen auf der extremen rechten und Mélenchon auf der extremen linken Seite versuchen, das wachsende Wutpotenzial für sich zu nutzen. Tausende folgten am Wochenende Mélenchons Aufruf zum Marsch auf das Finanzministerium. Zu einer Massenbewegung reichte es aber noch nicht.

Gleichzeitig blockierten Lkw die Straßen im Protest gegen eine Ökosteuer für Schwertransporter, obwohl die Regierung diese vorerst ausgesetzt hat. Zu riskant erschien ihr der Aufstand, der von Handelstreibenden und Landwirten in der Bretagne ausging. Die Reiter und die Sanitäter demonstrieren gegen höhere Steuern, die Lehrer gegen eine Schulreform.

In einem Bericht der Präfekten ist die Rede von einer "Mischung aus latenter Unzufriedenheit und Resignation", die zu "plötzlichen, fast spontanen Wutausbrüchen außerhalb strukturierter sozialer Bewegungen" führe.

Die einschneidenden Hartz-IV-Sozialreformen des früheren deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder gelten als vorbildhaft - und als undurchsetzbar in Frankreich, wo die Menschen schnell aufbegehren, auf ihr revolutionäres Erbe verweisend. Zwar gewährt das Präsidialsystem dem Staatschef eine außergewöhnlich große Machtfülle, zumal Hollande über Mehrheiten in beiden Parlamentskammern verfügt. Doch die Furcht vor einer Blockade zwingt ihn zu höchster Vorsicht.

Die Rücknahme der Ökosteuer zeigt, dass er lieber Einnahmeverluste in Millionenhöhe und den Ruf eines inkonsequenten Umfallers in Kauf nimmt als eine Widerstandsbewegung, die sich zum Flächenbrand auswachsen könnte. Premier Jean-Marc Ayrault hat eine umfassende Steuerreform angekündigt, aber im ständigen Dialog mit den Sozialpartnern.

Zweifel an der Regierung, Mahnungen von außen

Diese Behutsamkeit lässt die Opposition sowie die internationalen Partner zweifeln, ob die Regierungsverantwortlichen den Ernst der Lage erkannt haben. Die Wirtschaftsleistung ist in Frankreich im dritten Quartal um 0,1 Prozent gefallen, Experten der EU-Kommission und der OECD mahnen zu strukturellen Reformen unter anderem auf dem Arbeitsmarkt und zu einer Senkung der Ausgaben und der Staatsquote, die den europäischen Spitzenwert von 56 Prozent erreicht hat.

Noch sei der Druck nicht groß genug, meinte Gerhard Cromme, Präsident des Siemens-Aufsichtsrates und Koautor eines Berichtes zur französischen Wettbewerbsfähigkeit, bei einer Veranstaltung der Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer in Paris. Doch der "Moment der Wahrheit" könne jederzeit eintreten, provoziert von den Märkten. "Dann wird Hollande die Entscheidungen treffen, die im Interesse des Landes sind." Ohne Rücksicht auf eine potenzielle Revolution.