Kiew. Arseni Jazenjuk hat das Video, das ihn zeigt, selbst über Facebook verbreitet. Der Fraktionsführer der Partei "Vaterland" der inhaftierten Ex-Premierministerin Julia Timoschenko klettert bei einer Kundgebung auf die Schultern von Demonstranten. Der für einen ukrainischen Politiker ungewohnt hagere junge Mann ergreift zwei Megafone. "Ruhm der Ukraine!", brüllt Jazenjuk in die Menge. "Ruhm den Helden!", hallt es zurück. Es ist ein nationaler Kampfruf.
Etwas ist anders als vor neun Jahren. Damals, im Spätherbst 2004, war der Maidan, der zentrale Platz in Kiew, über und über mit Demonstranten gefüllt. Man schwenkte orange Flaggen - die Fahnen des prowestlichen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Juschtschenko. Die Menschen harrten bei bitterster Kälte in Zelten aus, es wurde heißer Tee ausgeschenkt. Und am Ende wurde gejubelt, die "Orange Revolution" erreichte ihr Ziel: Juschtschenko wurde nach Neuwahlen Präsident, Wiktor Janukowitsch, der Gegenkandidat aus dem prorussischen Donbass, musste weichen.
Heute ist ebendieser Janukowitsch Präsident. Und obwohl auch diesmal wieder, wie am Sonntag, weit über 100.000 prowestliche Ukrainer demonstrierten, in Zelten übernachteten und Flaggen schwenkten, ist die Stimmung unter den Protestierenden deutlich angespannter. Die Entscheidung Janukowitschs und seines Premierministers Mykola Asarow, das Abkommen mit der Europäischen Union aus Rücksicht auf die Reaktionen des Kreml auf Eis zu legen, hat eine Welle aus Zorn und Empörung im prowestlichen Lager ausgelöst. Das Niederknüppeln der Proteste durch die Sicherheitskräfte am Samstag tat ein Übriges und heizte die Stimmung zusätzlich an.
Doch es sind nicht nur der überharte Polizeieinsatz der letzten Tage und der umstrittene Kurs der Regierung, die in Kiew und anderswo, insbesondere im Westen des Landes, für aufgeheizte Stimmung sorgen. Still und weitgehend unbeobachtet haben sich innerhalb des prowestlichen Lagers seit Frühjahr 2010, seit dem Amtsantritt von Janukowitsch als Präsident, die Akzente verschoben. Immer öfter taucht neben der Europaflagge und der Flagge der EU heute auf dem Maidan eine andere blau-gelbe Fahne auf, die - nach Art des ukrainischen Dreizacks, des Staatssymbols - eine Hand mit drei gespreizten Fingern zeigt: das Symbol der "Swoboda" (Freiheit). Die Rechtsaußen-Partei, die in der Westukraine ihre Hochburgen hat und deren Führer Oleh Tjahnybok aus Lemberg stammt, hat vor etwas mehr als einem Jahr bei den Parlamentswahlen mit knapp über 10 Prozent erstmals den Einzug in die "Werchowna Rada", das ukrainische Parlament, geschafft.