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Regime geht zum Angriff über

Von Gerhard Lechner

Politik

Spekulationen um Janukowitsch-Deal mit Russlands Präsidenten Putin.


Kiew. Wer es war, konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden. Berkut, die Sondereinheit der Polizei? Der Staatssicherheitsdienst SBU? Maskierte, bewaffnete Männer stürmten am Montagabend in Kiew die Zentrale der Oppositionspartei "Vaterland". Laut Vertretern der Partei der inhaftierten Julia Timoschenko sollen es Berkut-Leute, also Polizisten gewesen sein. Sie hätten einen Server entwendet. Die Polizei dementierte, in den Vorfall verwickelt zu sein. Knapp zuvor hatten die Sicherheitskräfte damit begonnen, die Barrikaden der Demonstranten zu räumen. Außerdem waren erstmals jene Sondereinheiten im Zentrum aufmarschiert, die in den letzten Tagen Richtung Kiew beordert worden sind. Sie bauten sich am Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz, vor den Demonstranten auf. Den ganzen Tag über kursierten in Kiew Gerüchte, die Sicherheitskräfte würden das Lager der Oppositionellen in der Nacht auf Dienstag räumen.

Dass die Behörden irgendeine Aktion geplant hatten, konnte am Montag bereits vermutet werden. Aus Sicherheitsgründen, so hieß es, wurden Metrostationen in Kiew gesperrt. Ein anonymer Hinweis auf Bombenleger soll der Grund gewesen sein, weshalb die U-Bahn-Stationen Chreschtschatyk und Maidan Nesaleschnosti nicht betreten werden durften - jene Orte, an denen sich in Kiew der Protest gegen die Regierung unter Präsident Wiktor Janukowitsch konzentriert. Am Sonntag hatten sich dort Hunderttausende gedrängt, um für eine EU-Anbindung der Ukraine zu protestieren.

Die prowestlichen Demonstranten wollten auch am Montag trotz eisiger Kälte und matschigem Schnee durchhalten - auch gegenüber der Bedrohung durch die Sicherheitskräfte. Der Frust über den Kurs des Präsidenten ist zu groß geworden: Rund zwei Monate lang sonnte sich das Pro-EU-Lager in der Gewissheit, Janukowitsch werde das Abkommen mit der EU Ende November in Vilnius unterzeichnen. Allenfalls schien unsicher, ob die EU der Ukraine nicht noch wegen des ungelösten Falles der Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko Steine in den Weg legt. Dass aber Janukowitschs Regierung selbst die Vorbereitungen für die Unterzeichnung des Abkommens stoppte, hatte in den prowestlichen Landesteilen ein Feuer des Protests angefacht.

Beitritt in Zollunion fixiert?

Und der nächste Brandbeschleuniger könnte bereits vor der Türe stehen: Auf seinem Rückflug aus China hatte sich Janukowitsch am Freitag in Sotschi mit dem Gottseibeiuns der Demonstranten getroffen, mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Offiziell wurde nur verlautbart, dass es um "Fragen der Handels- und Wirtschaftskooperation" und über eine "strategische Partnerschaft" gegangen sei - Vokabel, die nichts bedeuten müssen, aber auch alles bedeuten können. In der Ukraine wird seither wild über den Inhalt der Gespräche spekuliert. Wie viele Ukrainer, so vermutet auch Edward Lucas, der Russland-Experte des britischen "Economist", Janukowitsch habe mit Putin einen Beitritt der Ukraine zu Moskaus Zollunion vereinbart - gegen hohe Kredite für das wirtschaftlich extrem klamme Land. Bestätigt ist einstweilen noch nichts. Sollten sich die Gerüchte aber als zutreffend herausstellen - etwa am 17. Dezember, beim nächsten Treffen zwischen Putin und Janukowitsch - könnte das für das zutiefst gespaltene Land zu einer ernsten Belastungsprobe führen. So werden etwa die westlichen Landesteile mittlerweile von der ukrainisch-nationalen, stark Moskau-feindlichen Partei "Swoboda" regiert. Die laut Beobachtern paramilitärisch organisierte Gruppe, deren Parteichef Oleh Tjahnybok sich auf die ukrainischen Nationalisten der 1930er und 40er Jahre beruft, die noch bis in die 1950er Jahre gegen die Rote Armee kämpften, tritt auf dem Maidan recht selbstbewusst auf. Dass sich Tjahnybok ohne Widerstand in eine "Eurasische Union", wie sie Putin plant, drängen lässt, darf bezweifelt werden. Sicher ist: Die "Bataillone" der Prowestler in der Ukraine sind bedeutend stärker als etwa die im benachbarten Weißrussland.

Ob der angespannten Lage in der Ukraine tritt nun auch die Europäische Union auf den Plan. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton befindet sich am Dienstag und Mittwoch in Kiew, um unter anderem mit Janukowitsch über die Situation zu beraten. Der kommt nun offenbar von ungewohnter Seite unter Druck: Politikbeobachtern in Kiew fiel auf, dass die ukrainische Presse ungewohnt offen über den brutalen Polizeieinsatz gegen Demonstranten in Kiew berichtet hat. Besonders jene TV-Sender, die den sogenannten "alten Oligarchen" gehören, berichten weitgehend ungeschminkt. Der Ausdruck "alte Oligarchen" hat sich in Kiew für jene einflussreichen Unternehmer eingebürgert, die einst Janukowitschs Aufstieg gefördert hatten, die aber in jüngster Zeit durch neue, Janukowitsch nahestehende Netzwerke - die "Familie" - zunehmend unter Druck geraten. Sie gelten außerdem als eher EU-freundlich und fürchten russischen Druck. Sollten sich diese Oligarchen um Dmytro Firtasch und Rinat Achmetow tatsächlich gegen Janukowitsch stellen, könnte der ein ernstes Machtproblem bekommen.

Präsident im Schlingerkurs

Überhaupt ist zweifelhaft, ob der Präsident über eine Strategie verfügt, mit der jetzigen Situation fertigzuwerden, die über den Wunsch, die Probleme auszusitzen, hinausreicht. Janukowitsch wirkt wie ein Getriebener der jeweils herrschenden Umstände, taucht immer wieder unter und äußert sich nur selten zu der Krise, in der das Land geglitten ist. Am Wochenende leiteten die Sicherheitsbehörden Ermittlungen gegen die Opposition wegen angeblicher Umsturzversuche ein. Am Montag hieß es dann plötzlich, der Präsident sei zu Gesprächen mit den Oppositionellen bereit. Außerdem will sich Janukowitsch mit seinen Amtsvorgängern Leonid Krawtschuk, Leonid Kutschma und Wiktor Juschtschenko treffen. Die hatten vergangene Woche ihre Solidarität mit den Demonstranten erklärt und Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition gefordert.

Anleger werden unterdessen ob der instabilen Situation im Land immer nervöser. Die Zinsen für Kredite mit einer Laufzeit von einer Woche stiegen am Montag auf 18 Prozent. Am Freitag mussten Schuldner gerade einmal sieben Prozent und vor einer Woche sogar nur 3,5 Prozent zahlen.