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Ein Ja mit Bauchschmerzen?

Von WZ-Korrespondent Michael Pöppl

Politik

SPD-Spitze muss bis zum Wochenende Mitglieder für Abkommen gewinnen.


Berlin. Im Nieselregen vor dem Tempodrom stehen die sozialdemokratischen Kritiker der geplanten großen Koalition und verteilen Informationsmaterial an alle Neuankömmlinge. Bei einer der letzten Regionalkonferenzen vor dem Mitgliedervotum sind einige hundert Berliner SPD-Mitglieder gekommen. Man diskutiert friedlich das Für und Wider des Koalitionsvertrages mit der CDU/CSU. Es ist die letzte Chance für viele, noch einmal ihre Bedenken anzumelden, denn am Freitag um Mitternacht ist Abgabeschluss für die rund 470.000 SPD-Mitglieder. Am Wochenende wird der Parteivorstand dann die Ergebnisse des Mitgliedervotums verkünden, die bindend für eine Zusage der SPD zum Koalitionsvertrag sind. Ein Novum in der deutschen Politikgeschichte. Denn, lehnt die Basis ab, wird die wochenlang verhandelte große Koalition doch nicht zustande kommen - und der Parteivorstand mit SPD-Chef Sigmar Gabriel an der Spitze stünde vor dem Rücktritt.

Auch einer der Mitgestalter des Koalitionsabkommens ist vor Ort. Der bayerische Landesvorsitzende Florian Pronold war SPD-Verhandlungsführer im Bereich Verkehr, Bauen und Infrastruktur. Zusammen mit dem Berliner Landesvorsitzenden Jan Stöß will er die örtlichen SPD-Genossen nun endgültig überzeugen, mit einem Ja zu stimmen. Die eigentliche Diskussion wird leider unter Ausschluss der Presse abgehalten. Stöß zeigt sich vor der Veranstaltung erfreut über das hohe Interesse der Mitglieder: Bis vergangenen Freitagmittag waren bereits 200.000 Wahlunterlagen bei der SPD eingegangen. Pronold gibt sich erstaunlich selbstkritisch: "Sicherlich haben wir in bestimmten Punkten schmerzhafte Abstriche machen müssen." Gerade in den Bereichen Bildung, erneuerbare Energien, Betreuungsgeld und Steuererhöhungen habe man sich gegen die CDU/CSU nicht durchsetzen können.

Es ist bereits Pronolds zwölfte Veranstaltung in den vergangenen Wochen, bei der er auf sozialdemokratische Verhandlungserfolge verweist. Mit der Einführung eines Mindestlohns, der Pension mit 63 für langjährig Beschäftigte oder der Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft habe man dem potenziellen Koalitionspartner ebenfalls viel abgerungen. Gerade wegen der Vereinbarungen in den Bereichen Stadtentwicklung und Mietpreisbindung erwartet Pronold eine breite Zustimmung der als kritisch geltenden Berliner Genossen: "Auch bei uns in Bayern war die Stimmung bei der Basis vorher sehr verhalten, hat sich aber komplett gedreht, seitdem der Koalitionsvertrag vorliegt. Vorher gab es eine große distanzierte Haltung, übrigens auch bei mir, denn kein Mensch in der Partei hatte eigentlich Lust, Angela Merkels Amtszeit zu verlängern."

Das sehen die Kritiker ähnlich, werfen aber der Parteispitze vor, bei den Verhandlungen zu viele Kompromisse gemacht zu haben. Gotthard Krupp wird mit "Nein" stimmen. Er hat vor kurzem seine Ehrennadel für 25 Jahre SPD-Mitgliedschaft erhalten und ist einer jener, die vor der Halle Flugblätter verteilen. Für ihn ist der Koalitionsvertrag eine Mogelpackung, die den Mitgliedern als sozialdemokratisch verkauft werden soll: "Durch den Finanzierungsvorbehalt werden viele Vereinbarungen auf lange Zeit nicht umgesetzt werden können und wegen der Ablehnung von Steuererhöhungen können bestimmte Projekte nur über soziale Kürzungen verwirklicht werden", so Krupp.

Kritisch sind nicht nur viele ältere Genossen, auch die Jungsozialisten haben vergangene Woche den Koalitionsvertrag abgelehnt. Die neu gewählte Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann sieht gerade die jüngere Generation benachteiligt. "Wir haben drei Hauptkritikpunkte: Der Koalitionsvertrag enthält keine unserer Forderungen - weder zur Erhöhung des Bafög (staatliche Unterstützung für Schüler und Studenten, Anm.) noch zur Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen noch der Einführung einer Mindestausbildungsvergütung. Es findet auch kein deutlicher Kurswechsel in der Europapolitik statt, die anstatt zu sparen, aktiv investieren müsste, um die europaweite Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ebenso wird nichts für mehr Verteilungsgerechtigkeit getan. Wir haben im Wahlkampf aber Steuererhöhungen für Gutverdiener gefordert."

"CDU war noch nie so sozialdemokratisch"

Andere geben sich pragmatischer. Der 34-jährige Martin Grohls sieht vor allem die Chancen. "Die CDU war noch nie so sozialdemokratisch wie heute. Deshalb können in der großen Koalition endlich langjährige Kernforderungen der SPD umgesetzt werden: Mindestlohn, Rente mit 63 und auch die doppelte Staatsbürgerschaft." Die 29-jährige Johanna weiß noch nicht, wie sie abstimmen wird, tendiert aber dazu, ja zu sagen: "Die große Koalition ist sicher nicht die politische Konstellation, die ich mir gewünscht hätte, aber man sollte nicht noch vier Jahre warten, bis man Themen wie Mindestlohn oder die Gleichberechtigung der Homosexuellen in einer anderen Koalition umsetzt."

Trotz der Bauchschmerzen, die ihnen der Gedanke an eine große Koalition bereite, wird vermutlich eine deutliche Mehrheit der Berliner Genossen mit Ja stimmen - und im Bund ist Ähnliches zu erwarten. Eines aber hat das Mitgliedervotum bewirkt, und da sind sich Befürworter und Gegner einig: Die Partei hat durch das Votum gewonnen, das sagt auch die Juso-Vorsitzende Uekermann: "In der gesamten SPD wurde lange nicht mehr so viel über Inhalte miteinander diskutiert, das ist ein großer Fortschritt für die innerparteiliche Demokratie."