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Die Euromantiker

Von Gerhard Lechner

Politik

Regierung und Protestbewegung stehen sich unversöhnlich gegenüber.


Kiew. Wiktor Janukowitsch muss sich das Ganze anders vorgestellt haben. Ganz anders. Seit Wochen schon versucht der ukrainische Präsident, die Pro-EU-Proteste auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, einzudämmen. Allein: Nichts will so recht klappen. Anfänglich hatte es die Polizei mit Schlagstock und Tränengas versucht. Das Ergebnis: ein Aufschrei in der Presse des Westens und eine zusätzliche Mobilisierung für die Janukowitsch-Gegner. Einer jüngsten Umfrage zufolge gaben knapp 70 Prozent der Demonstranten Polizeigewalt als Grund an, auf den Maidan zu kommen. Das übertrifft als Mobilisierungsgrund sogar den Stopp der EU-Assoziierung.

Dann zogen sich die Sicherheitskräfte wieder zurück, beschränkten sich auf eine relativ laxe Einkreisung der Protestler. Ganze Busse mit Utensilien für die auf dem eiskalten Maidan Campierenden wurden durchgelassen. Sie lieferten Holz zum Wärmen, Essen und nicht zuletzt Material zum Aufbau der Barrikaden, die den Unabhängigkeitsplatz umgeben. Diese sind mittlerweile mit Sandsäcken verstärkt und bieten ein Bild, das an Hochwasserschutz oder an einen Stellungskrieg erinnert. Auch Janukowitsch und sein Premierminister Mykola Asarow ruderten verbal immer wieder zurück und zeigten sich gesprächsbereit. Zur selben Zeit stürmten Maskierte eine Parteizentrale der Opposition.

Mittlerweile ist die Lage festgefahren. Die Demonstranten sind trotz der Minusgrade entschlossen, auch noch über die Weihnachtsfeiertage durchzuhalten. Sie fordern kategorisch den Rücktritt von Premier und Präsident und Neuwahlen in der Ukraine. Ein Szenario, auf das sich Janukowitsch wohl nicht einlassen wird: Bei dem Zwei-Meter-Mann aus dem ostukrainischen Donbass dürfte die Erinnerung an 2004, an die Orange Revolution, noch nicht verblasst sein. Auch damals wurde gegen ihn demonstriert, hernach gab es unter EU-Vermittlung einen Runden Tisch und Neuwahlen, die der prowestliche Rivale Wiktor Juschtschenko gewann. Janukowitschs Lust, so etwas noch einmal zu erleben, dürfte sich in Grenzen halten. Es ist schwer vorstellbar, dass er vor diesem Hintergrund der Forderung des EU-Parlaments nach einer "umfassenden offiziellen Vermittlungsmission der EU auf höchster politischer Ebene" nachkommen wird. Janukowitsch und seine Regierung stehen auf dem Standpunkt, sie seien die gewählten Vertreter des Staates. Sie wollen sich wegen einer umstrittenen politischen Entscheidung nicht wegputschen lassen.

Kein zweites Weißrussland

Der naheliegende zweite Weg, den mittlerweile gut befestigten Platz notfalls gewaltsam zu räumen und eine Repression gegen die Opposition nach weißrussischem Vorbild einzuleiten, beinhaltet aber für Janukowitsch ein extrem hohes Risiko. Zum einen würde er jeden Rückhalt im Westen verlieren, Sanktionen gegen sein Land riskieren und die Hoffnung auf Hilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wohl begraben müssen. Zum anderen würde die dann folgende engere Anbindung an Russland jene Kräfte in der Ukraine zum Aufstand animieren, die immer schon dem Westen zuneigten. Vor allem aus dem Herrschaftsgebiet der nationalistischen Oppositionspartei "Swoboda" (Freiheit) in der Westukraine könnte Widerstand kommen. Laut Umfrage zeigten sich immerhin 15 Prozent der Demonstranten auf dem Maidan bereit, im Notfall auch zur Waffe zu greifen. Und für eine friedliche Teilung des politisch tief gespaltenen Landes, die auch von niemandem gewollt wird, steht keine klare Grenze zur Verfügung.

Noch scheint man in der Ukraine von einem solchen Szenario aber weit entfernt. Die Demonstranten auf dem Maidan feiern ihr Durchhalten wie einen Sieg. Ihre Losung lautet "Die Ukraine ist Europa", ihr erklärtes Ziel ist ein EU-Beitritt des Landes. Das Problem dabei: Der ist, wenn er auf den Kiewer Barrikaden auch noch so stürmisch gefordert wird, seitens der EU nicht geplant. Dafür signalisierte Kiew Donnerstag zum wiederholten Male, das Assoziierungsabkommen mit der Union bald zu unterzeichnen. Ein konkreter Termin wurde aber nicht genannt. Dass die in Europa derzeit nicht sonderlich geliebte EU-Flagge in Kiew verführerisch glänzt, liegt insbesondere darin, dass in dem postsowjetischen Land "Europa" nach Zivilisation klingt, nach Recht und Gesetz - im Gegensatz zur "Janukowitsch-Bande" in Kiew.

Bande zu Russland dünner

Die alten Bande zu Russland werden zudem seit der Unabhängigkeit 1991 mehr und mehr dünner. Zwar feiert man in Kiew immer noch den 9. Mai, den "Tag des Sieges" über Nazideutschland, ganz so wie in Russland. Der dazugehörige "Sieger", Sowjetdiktator Josef Stalin, hat am Dnjepr aber ein ganz schlechtes Image - im Gegensatz zu Moskau, wo in den letzten Jahren eine unterschwellige Stalin-Renaissance festzustellen ist. In Kiew erinnert man sich an Stalin nicht als Sieger, sondern als Organisator des "Holodomor", der großen Hungersnot der 1930er Jahre, der Millionen Ukrainer zum Opfer fielen. Mittlerweile geben sich auch ältere Ukrainer vom Typus "homo sovieticus" als eingefleischte EU-Fans. Russlands Präsident Wladimir Putin hat es immer schwerer, gegen die Sehnsucht nach der europäischen Zivilisation an die ostslawisch-orthodoxe Zusammengehörigkeit der beiden Länder zu appellieren. In seiner Rede an die Nation am Donnerstag zeigte sich der gewöhnlich eher direkt auftretende Politiker gegenüber Kiew schmeichelweich. Russland wolle keine Supermacht, kein globaler oder regionaler Hegemon werden: "Wir zwingen niemandem etwas auf", so Putin Richtung Kiew.